Siegen. . Zwei Wissenschaftler aus der Türkei forderten demokratische Grundrechte, verloren ihre Arbeit, fanden Asyl an der Uni Siegen. Ihre Analyse nach dem Referendum pro Erdogan.

  • Geisteswissenschaftler verlieren ihre Arbeit nach Unterzeichnung einer Erklärung
  • Universität Siegen ermöglicht ihnen über Stipendium, ihre Forschung fortzusetzen
  • Analyse der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Türkei

Präsident Erdogan kann den türkischen Staat umbauen, eine – knappe – Mehrheit der türkischen Bürger stimmte beim Verfassungsreferendum mit „Ja“. Seit langem hatte Erdogan gezielt darauf hingearbeitet; Opposition, kritische Journalisten, Wissenschaftler bekamen Probleme. Mehmet B. und Ufuk D. (Namen geändert) waren Geisteswissenschaftler an türkischen Universitäten, setzten sich für demokratische Grundrechte ein – und mussten fliehen (siehe unten). Die Uni Siegen gewährte ihnen Asyl über ein Stipendium.

DIE ANALYSE

Mehmet B.: „Erdogan hat die Verfassung vergewaltigt“

Rechtspopulismus und Nationalismus waren immer wichtige Kriterien des politischen Islam in der Türkei. Erdogans AKP war von Anfang an rechtspopulistisch. An einem bestimmten Punkt seiner Regierung musste Erdogan sich mit der vorherrschenden kemalistischen Elite auseinandersetzen, dafür suchte er die Unterstützung des Westens.

Von Beginn an war ihm klar, dass die Türkei nie ein vollwertiges Mitglied der EU werden würde – aber deren Unterstützung könnte ihm Vorteile bringen, seine Macht zu sichern. Um 2010/11 hatte Erdogan seine Macht so weit gefestigt, dass er diese Unterstützung nicht mehr brauchte. Die strategische Allianz mit liberalen Kräften war für ihn immer eine Durchgangsstation, diese Werte hat er nie geteilt.

Und Erdogan hatte Grund, sich zu fürchten. Er hat viele Verbrechen begangen, die türkische Verfassung vergewaltigt und schon vorher de facto eine Diktatur errichtet. Hätte er seine Macht aufgeben müssen, wäre er tief gefallen. Also erhöhte er den Druck, er konnte nicht anders.

Niemand kann sicher und frei sein, solange andere das nicht sind. In der Türkei ist eine Gruppe frei: die muslimische, türkische Mittelschicht. Aber es leben viele verschiedene Gruppen im Land: Kurden, Griechen, Alawiten, Armenier. Die türkische Mehrheit interessiert nicht, was mit denen geschieht, sie denkt, dass schon alles in Ordnung sein wird. Aber das ist es nicht; dass auch sie in ihren Rechten eingeschränkt sind, wenn andere unfrei und benachteiligt sind. So ein Staat kann keine Demokratie sein. Wenn nicht alle gleichberechtigt sind, wird niemand Frieden haben.

Ufuk D.: „Nationalismus ist sehr stark in der Türkei“

„Die Türkei hatte immer Probleme mit der Demokratie, zunehmend ab 1980. Mit Unterbrechungen überwogen seit 1980 antidemokratische Zeiten. Dahinter stehen zwei Dynamiken: Die ökonomische Krise und die Kurdenfrage. Die türkische Mehrheit fürchtet: Wenn kurdische Anliegen noch mehr berücksichtigt werden, kann das der türkische Nationalstaat vielleicht nicht mehr akzeptieren, die Mehrheit es nicht länger absorbieren. Bevor also die Kurdenfrage eine Eigendynamik entwickelte, unterdrückte sie dir Regierung. Nationalismus ist in der Türkei sehr stark – wer nicht für uns ist, ist kein Türke, sondern Terrorist. Das greift Erdogan auf.

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Der arabische Frühling und das Erstarken des IS stürzte die Türkei in eine hegemonielle Krise: Die Regierung sorgte sich, dass die Revolution, etwa aus Ägypten, ins Land schwappt – ein Mann, der alle Autorität in seiner Person vereint, schien genau richtig. Als sich in der Türkei eine zivile Revolution andeutete, stellten sie die Gülen-Bewegung kalt – nun kann niemand mehr die Menschen mobilisieren.

Die Türkei ist in dieser Frage nicht einzigartig. Seine Strategie hat Erdogan von Putin übernommen – jetzt bedient sich Trump bei Erdogan. Wir können in den USA die Anfänge dessen beobachten, was vor zehn Jahren in der Türkei passiert ist. Populistische, nationalistische Strömungen auf der Welt sind eine Zeitgeist-Erscheinung.“

>>>>HINTERGRUND: Für Wissenschaftler wird es ungemütlich

Mehmet B.: Als Wissenschaftler hatte B. sich aus der Politik herausgehalten. Aber als der Friedensprozess mit den Kurden gestoppt wurde, die Armee „mit Waffen, Panzern und Bomben in Städte einrückte, gegen unschuldige Menschen vorging“, äußerte er sich. Gewaltenteilung, parlamentarisches System wurden geschleift, „als Akademiker sagten wir: Das ist ein Verbrechen. Das kann ein Staat nicht tun!“ Im Januar 2016 unterzeichneten 2000 Wissenschaftler mehrerer Unis die „Declaration of Peace“, prangerten Missstände an, warben für den Dialog.

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Bald danach begannen die Verhaftungen. „Man beschuldigte uns, die PKK zu unterstützen.“ Sie kamen frei, aber es wurde ungemütlicher: „Die Uni sah sich als Teil des Staatsapparats“. Der Rektor, Erdogan-Fan, machte den Unterzeichnern das Leben schwer, nutzte nach dem Putschversuch des Militärs im Juli 2016 die Gelegenheit, unliebsame AKP-Kritiker loszuwerden. Er schwärzte B. und seine Kollegen als Gülen-Unterstützer an. Sie verloren ihre Arbeit, gründeten die Initiative „Akademiker für Solidarität“, organisierten Seminare, auch für die Öffentlichkeit. Dafür beschimpfte Erdogan sie als Terroristen. B konnte die Türkei im Januar verlassen.

Ufuk D. hat unterzeichnet, auch seinem Rektor passte das nicht. Statt zu verleumden, verlängerte er Verträge nicht. Wenn bestimmte Voraussetzungen – Vorträge, Publikationen – erfüllt sind, passiert das eigentlich automatisch. „Keiner von uns konnte weiterarbeiten“, sagt er. D. kam im Januar nach Deutschland. Zwei seiner Freunde brachten sich kürzlich um, weil sie keine Arbeit fanden. 400 Unterzeichner verloren ihre Stelle, 50 konnten das Land verlassen

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