Netphen. . Soziologin Rosemarie Bork im Netphener Ratssaal: Die Kindererziehung war auf Gehorsam ausgerichtet, geredet wurde nach die Krieg nicht.
- Autoritäre Erziehung sollte Menschen zu Untertanen machen
- Die Kriegsfolgen, Hunger, Flucht, Vertreibung, wirkten auf die Bevölkerung
- Traumata werden nach dem Krieg selten aufgearbeitet und weitergegeben
Die Mutter holt den Rohrstock hervor, nimmt die kleine Tochter an die Hand, sie gehen in den Keller. Das Mädchen weiß, was ihr blüht. Weil sie noch so jung ist, nicht abstrahieren kann, weiß sie nicht, ob sie die Prügel überleben wird. Was geht in einem Kind vor, das diese Bedrohung, die Vorbereitung der erniedrigenden Situation beobachtet? Und was in der Mutter, die fast schon sadistisch die Misshandlung vorbereitet und das eigene Kind zum Zuschauen verdammt? Eine bedrückende Vorstellung.
Und keine Seltenheit in den Kinderstuben der Nachkriegszeit. Nicht alle Eltern behandelten ihre Kinder so, natürlich nicht, vielleicht nichtmal die Mehrheit. Aber es gab sie, die strengen preußischen Tugenden, die von den Nazis gern übernommen und verschärft wurden und die irgendwie auch in die Erziehungsmethoden der Nachkriegszeit Einzug hielten. Die Diplomsoziologin Rosemarie Bork hat auf Einladung der Netphener Senioren-Service-Stelle und der VHS Siegen-Wittgenstein Gründe für generationsübergreifende Traumata in ihrem Vortrag „Wie wirkt der Zweite Weltkrieg in den heutigen Generationen fort?“ im Rathaus skizziert.
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1. Autoritäre Erziehung sollte Menschen zu Untertanen machen. Jungen sollten abgehärtet sein, mutig, stark, tapfer, ohne Gefühl und Mitleid, denn das war in Vorbereitung auf den Kriegsdienst hinderlich. Mädchen hatten hauptsächlich als Mutter zu dienen. Bork erzählt von Johanna Haarer, Ärztin, Mutter mehrerer Kindern und begeisterter Nationalsozialistin, die drei Erziehungsbücher schrieb. Nationalsozialistische Erziehung begann beim Baby, das auf keinen Fall verzärtelt werden sollte, Gehorsamkeit war das wichtigste. „Babys bekamen nach diesem Ideal zu festen Zeiten ihre Nahrung und möglichst wenig Zuwendung“, so Bork. „Ein Urvertrauen konnten Kleinkinder so nicht aufbauen.“ Auch in der weiteren Nazi-Erziehung ging es darum, den Willen der Kinder zu brechen: Durch den Aufenthalt im Ställchen Neugier und Spielraum zu begrenzen. Diese Bindungsstörung gipfelte schließlich in der „Kameradschaft“ an Stelle der Freundschaft, enge persönliche Bindungen waren unerwünscht, stattdessen: Gehorsam und Disziplin.
2. Die Kriegsfolgen, Hunger, Flucht, Vertreibung, Zerstörung, wirkten auf die Bevölkerung. Die Soldaten erlebten an der Front zwangsläufig Gewalt und Gräueltaten mit, Frauen zum Beispiel auf der Flucht sexualisierte Gewalt, viele wurden vergewaltigt. Viele trauerten: Verlust von Heimat und Besitz, Bombennächte – und Gewalt als Erziehungsmittel. Nach Kriegsende kamen die Flüchtlinge, „die mussten irgendwie aufgenommen werden. Die heimatlosen Menschen waren nicht willkommen, denn sie wurden in bestehende Wohnungen zugewiesen“, so Bork.
Erziehung in der Nazizeit - Stimmen aus dem Publikum
3. Nach dem Krieg wird das Thema kaum aufgearbeitet. Es galt anzupacken nach dem Krieg, vor allem für die Frauen; Zerstörtes wiederaufbauen, das Überleben sichern, die Familie oft ohne den Vater durchbringen – und die Kinder mussten mithelfen. „Moralische Werte wurden zu großen Teilen außer Kraft gesetzt“, sagt Bork. Als die Väter dann zurückkehrten, wurde es nicht besser, „in der Nachkriegszeit gab es sehr viel Gewalt in den Familien“, sagt Bork. „Eltern hatten ihre Gefühle abgeschaltet für ihre Kinder.“
Als es dann besser wurde, bauten sich die Menschen ihre persönliche heile Welt auf, unter deren Oberfläche es oft brodelte – aber „für Gefühle war da kein Platz“, so Bork. Während des Kriegs nicht, unmittelbar danach nicht und dann kam, so Bork, die Scham darüber, was in der Nazizeit passierte. „Man wollte nicht mehr darüber reden.“ Und das ist vielleicht das Hauptproblem dafür, dass eine unbekannt große Zahl von Menschen an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet: Angst, Schuld und Kummer wurden nicht aufgearbeitet, man sprach einfach nicht drüber.
Referentin Rosemarie Bork in Bad Laasphe-Fischelbach geboren
Rosemarie Bork wurde 1951 in Bad Laasphe-Fischelbach als zweite Tochter aus Ostpreußen vertriebener Eltern geboren. Ihr Vater wurde als Soldat schwer verletzt, auch die Mutter, Krankenschwester, hatte gesundheitliche Probleme. Heute lebt sie wieder in Bad Laasphe.
Nach einer Apothekerinnen-Lehre arbeitete Bork an 18 verschiedenen Arbeitsplätzen in unterschiedlichen Berufen. Von 1994 bis 1999 studierte sie schließlich unter anderem Soziologie an der Universität Bielefeld.
Heute ist Bork Rentnerin, zuletzt leitete sie die Erwerbslosenberatungsstelle eines gemeinnützigen Vereins.
4. Traumata werden an die nächste Generation weitergegeben. „In der Psychologie versteht man unter einem Trauma das Erleben einer lebensbedrohlichen Situation“, erklärt die Soziologin, „der Betroffene hat keine ausreichenden Ressourcen zur Verarbeitung.“ Dabei sei das Trauma immer ein individuelles erleben, manche Menschen sind seelisch widerstandsfähiger, haben eine höhere Resilienz, „die Fähigkeit, mit Veränderungen umgehen zu können“, so Bork.
Traumata, erklärt Bork, können Gene verändern: „Traumatische Ereignisse können Schalter im Erbgut umlegen und so die Aktivität der Gene verändern. Das Psychotrauma hat sich ins Erbgut eingebrannt.“ Wenn der Soldat Kinder zeugt, kann er sein Trauma an das Kind weitergeben.
Außerdem, sagt Bork, prägt auch das Verhalten der Eltern die Kinder: Wenn die Mutter wegen eines unverarbeiteten Traumas in permanenter Alarmbereitschaft sei und unter Stress sofort durchdrehe, werde das unbewusst an Kinder weitergegeben. Wenn der Vater immer wieder cholerische Wutanfälle bekommt, eben weil sein kriegsbedingtes Trauma nicht aufgearbeitet ist, hat das Einfluss auf die Entwicklung der Kinder.
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