Siegen. Die ehemalige Straßenbahngesellschaft mischt von der Eintracht in Siegen aus im bundesdeutschen Güterverkehr mit.
- Werkstatt: Idealer Standort mit zentraler Lage
- Güter: Container-Terminal in Kreuztal als Revolution
- Personen: Lokführer sitzen wieder in Regionalbahnen
Der Pfiff ist ohrenbetäubend. Aber unvermeidbar: Das Eisenbahnbundesamt hat die Beschilderung angeordnet, die dem Lokführer das Warnsignal vor dem Bahnübergang vorschreibt. Drei Mal innerhalb von 300 Metern. Zum Leidwesen der Anwohner auf der Eintracht. Früher, als hier ein richtiger Bahnhof mit Stationsgebäude und sogar einem Personenbahnsteig war, gab es noch eine Fußgängerbrücke hinüber zum Stummen Loch. Der Triebwagen der Hessischen Landesbahn rollt in die Werkstatthalle. Christian Betchen hat wieder das Ohr der Mitglieder des Kreis-Verkehrsausschusses. Der neue Geschäftsführer der Kreisbahn Siegen-Wittgenstein kann überraschen. Mindestens dreifach.
1. Die Kreisbahn mischt mit
Personen befördern mochte die Kreisbahn, unter deren Regie im letzten Jahrhundert Straßenbahnen und Busse durchs Siegerland rollten, eigentlich nicht mehr. Als die Regionalbahn-Linien zum ersten Mal ausgeschrieben wurden, ließ das 133 Jahre alte kreiseigene Unternehmen der Deutschen Bahn den Vortritt. Für den Standort an der Eintracht aber, so berichtet Christian Betchen, war das ein neuer Start: „Die DB brauchte einen Werkstattstandort.“ 2008 wurde ein erster Bauabschnitt neu gebaut – die halbe Halle für den Personenverkehr der Dreiländerbahn, die andere Hälfte für den eigenen Güterverkehr. Irgendwo innendrin, im Altbau, befinden sich noch die Räume der Bahnmeisterei aus den 1970er Jahren.
Idealer Werkstattstandort
Inzwischen hat die Hessische Landesbahn die ehemaligen DB-Linien übernommen. „Wir haben noch einmal ausgebaut.“ 2014 wurde die komplette Werkstatt an die neuen Betreiber des Personenverkehrs übergeben, für den eigenen Bedarf hat die Kreisbahn eine weitere Halle gebaut. „Siegen ist ein idealer Werkstattstandort“, erklärt Christian Betchen – die Lage ist zentral. Alle sechs bis acht Jahre muss eine Lok zum TÜV, der hier natürlich nicht so heißt. „Hauptuntersuchung“ bedeutet auch mehr als nur den tiefen Blick unters Blech: Die Lok wird komplett zerlegt und neu aufgebaut, das kann viereinhalb Monate dauern und bis zu 350 000 Euro kosten. Dafür halten sie dann auch. „Eine Lok kann bis zu 50 Jahren laufen.“
Rheingold-Lok als erster Kunde
Zu den ersten auswärtigen Kunden im Neubau gehörte das DB-Museum Koblenz: Zweieinhalb Monate stand die Lok, die einst den „Rheingold“ zog, auf der Eintracht. „Die stärkste Streckenlok der Welt“, sagt Christian Betchen, „das war für uns natürlich ein Highlight.“
Die Deutsche Bahn bleibt präsent: In Prellbock-Nähe steht ihr Schneepflug, der von hier im gesamten Bergisch-Märkischen Netz eingesetzt wird. Weniger sichtbar, aber wirtschaftlich entscheidender ist das Engagement im Güterverkehr von DB Cargo. Seit 20 Jahren arbeitet die Kreisbahn mit dem Staatsunternehmen zusammen, seit 15 Jahren liegt die Betriebsführung der Werkbahnen von Industrieunternehmen bei der Kreisbahn, seit fünf Jahren bedient die Kreisbahn fünf bundesweite Güterzug-Linien.
2. Die Kreisbahn hat, was andere nicht haben
Ganz hinten auf dem Gelände liegt Holz neben den Gleisen. „Zugbildungsbahnhof“ ist die Eintracht, auf der sogar noch das über hundert Jahre alte Weichenstellwerk steht, das allerdings nun als Büro an den Lauf-Veranstalter „:anlauf“ vermietet ist. Im Umkreis von 80 Kilometern, sagt Christian Betchen, ist das der einzige Bahnhof, wo komplette Holz-Züge mit 22 Waggons Rundholz gebildet werden können. „Von hier geht es direkt zum Zellstoffwerk nach Stendal.“
Reach-Stacker statt Portalkran
Als die Kreisbahn 1998 nicht mehr benötigte Gleise auf der Eintracht abbaute, wurde Platz frei – für eine Container-Verladung, die dort nie verwirklicht wurde. In Kreuztal entsteht das neue Terminal für den „kombinierten Verkehr“, also den Container-Umschlag zwischen Bahn und Straße. Die Umschlag- und Lagerfläche wird um 10 000 Quadratmeter vergrößert, zwei 225 Meter lange Umschlaggleise und ein 190 Meter langes Abstellgleis ermöglichen das Umladen von bis zu 45 000 Containern im Jahr. Unter dem alten Portalkran, der durch moderne Reach-Stacker ersetzt wird – das sind riesige Gabelstapler – fanden nur zwei 60 Meter kurze Züge Platz.
Im April wurde die „Südwestfalen Container Terminal GmbH“ gegründet, an der die Kreisbahn als Eigentümer der Anlage mit 50 Prozent beteiligt ist. Diese Firma wird das Terminal betreiben, ein „strategischer Partner“ wurde mit europaweiter Ausschreibung gesucht. Die Anlage in Kreuztal, glaubt Christian Betchen, „wird es uns ermöglichen, neue Märkte zu erschließen.“ Die nächste Verlademöglichkeit dieser Art ist gut 80 Kilometer Bahnstrecke weit entfernt – wohl auch das ist ein Grund für den Bund, die Investitionskosten zu fast 80 Prozent zu übernehmen. „Eigentlich ist das eine Art Revolution“, macht SPD-Kreistagsmitglied Thomas Hartmann klar und zieht den Vergleich zu dem großen Umschlagbahnhof am Rhein: „Köln-Eifeltor ist demnächst bei uns vor der Haustür.“
3. Die Kreisbahn fährt Personenzüge
Die Kreisbahn-Geschichte auf der Eintracht beginnt mit den Güterzügen der Eisern-Siegener-Eisenbahn, zwischen die sich auch der eine oder andere Personenzug mischte, erst bis zur Eintracht, später weiter nach Kaan-Marienborn. Nach dem 2. Weltkrieg fuhren Straßenbahnen an den Lokschuppen vorbei. Die jüngste Dienstleistung der Kreisbahn ist ein gutes halbes Jahr alt: Seit März sitzen gelegentlich Lokführer der Kreisbahn in den Cockpits der Regionalbahnen. „Gestellung von Fahrpersonal für Dritte“ heißt das in der Geschäftssprache.
„Wir suchen uns unsere Nischen.“ Dass Christian Betchen überzeugt von dem ist, was er vertritt, wird an seinem ehrenamtlichen Engagement als Vorsitzender des Fördervereins der Speditions- und Logistikbetriebe deutlich: Wer für die Kreisbahn auf die Lok geht, verdient nicht schlecht. „Der Druck auf dem Fahrpersonalmarkt ist groß – die entleihenden Betriebe zahlen mehr, als wenn sie selbst ausbilden würden.“
Die Hessenbahn hatte angefragt, weil sie – wie viele Fahrgäste leidvoll mitbekommen haben – für die neuen Linien nicht genug Lokführer hatte. Mittlerweile fest auf den Loks sind die Kreisbahn-Mitarbeiter übrigens auch beim DB-Cargo-Standort in Dillenburg. Der Betrieb auf der Eintracht ist einsatzbereit: Seit 20 Jahren bildet die Kreisbahn wieder selbst aus.
Mehr Kreisbahn als gedacht
In der Werkstatthalle schieben Arbeiter ein Drehgestell zurück unter den gelb-roten Triebwagenzug der Hessenbahn. Über die Effertsuferbrücke und die Siegbrücke wird der Zug bald wieder in den Hauptbahnhof einrollen, zur nächsten Fahrt nach Bad Berleburg, Betzdorf und Dillenburg. Immer mit ein bisschen mehr Kreisbahn drin und dran, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
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Hintergrund: Brückenkran nimmt Motor an den Haken
Zwei Loks können über der 40 Meter langen Grube gleichzeitig gewartet werden. Der 12-Tonnen-Brückenkran ist stark genug, um den Motor aus einer Kreisbahn-Lok herauszuheben.
Die Nachfrage nach den Werkstatt-Kapazitäten ist da, sagt Christian Betchen: „Das sind Investitionen, die sich aus dem Projekt heraus tragen.“
So weit, dass sie Gewinne an ihren Eigentümer abführt, ist die Kreisbahn allerdings noch nicht. Die kreiseigene Betriebs- und Beteiligungsgesellschaft finanziert einen jährlichen Verlust von bis zu 500 000 Euro.
In Zahlen: Eine Kreisbahn auf vier Inseln
45 Mitarbeiter hat die Kreisbahn. Davon arbeiten zehn Personen in der Verwaltung, die anderen sind vor allem im Fahrdienst und in der Werkstatt beschäftigt.
6
Loks gehören zum Fuhrpark der Kreisbahn, jede ist 80 bis 88 Tonnen schwer. Ziehen können sie jeweils bis zu 2500 Tonnen.
1,8
Millionen Tonnen Güter werden pro Jahr transportiert.
34 812 Güterwagenladungen haben 2015 23,8 Millionen Tonnenkilometer zurückgelegt, 30 Prozent auf überregionalen Strecken.
700 Quadratmeter Werkstattfläche und 200 Meter Gleis hat die Kreisbahn auf der Eintracht untergebracht – ein kleines Kunststück, findet Christian Betchen. Denn das Gelände ist eng, die Nachbarschaft ist voll von Industriebetrieben, die hier ihren Gleisanschluss und Lagerplätze haben, zwei Bahnbrücken weiter beginnt schon das Hoheitsgebiet der DB, überquert wird der Kreisbahn-Bahnhof von der HTS-Rampe. Trotzdem: Um die neuen Hallen zu errichten, „mussten wir kein Gleis zurückbauen.“
1883 hat dort die Eisern-Siegener Eisenbahn ihr Betriebswerk eröffnet.
26 Kilometer lang ist das Schienennetz der Kreisbahn noch, verteilt auf die vier „Inseln“ der Vorgängerunternehmen, aus denen die heutige Kreisbahn Siegen-Wittgenstein sich zusammensetzt: Siegener Kreisbahn, Eisern-Siegener Eisenbahn, Freien Grunder Eisenbahn – und die Kleinbahn Weidenau-Deuz, deren Gleise hinter Dreis-Tiefenbach inzwischen abgebaut worden sind.
21 Unternehmen haben Schienen bis vors Werkstor, „Stammgleisanschlüsse“ heißen die im Bahndeutsch.
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