Eschenbach. . Das Bundesteilhabegesetz will Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Das Gegenteil wird erreicht, warnen Angehörige.

  • Bundesteilhabegesetz beunruhigt Angehörige
  • Lebenshilfe sorgt sich um Zukunft der Wohnstätte
  • Mittwoch Demo vor dem Landtag

Rolf Bonzel ist 90 Jahre alt, seine Ehefrau 81. Ihre drei Kinder wurden zwischen 1960 und 1963 geboren, alle mit dem Martin-Bell-Syndrom, einer genetisch bedingten geistigen Entwicklungsstörung. „Wir sind zufrieden so wie es ist, wir haben keine Schwierigkeiten“, sagt er. Die Hoffnungen allerdings, die er für Andreas, Gabriele und Matthias in die Reform des Bundesteilhabegesetzes und in das dritte Pflegestärkungsgesetz gesetzt hat, wird er – so fürchtet er — begraben müssen. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man ein Gesetz beschließen kann, mit denen es den Menschen schlechter geht als vorher“, sagt Rolf Bonzel.

Worum geht es?

Die drei geistig behinderten, längst erwachsenen Kinder der Bonzels wohnen seit 1990 stationär im Haus der Lebenshilfe in Eschenbach. Die Kosten dafür trägt bisher zu großen Teilen der Landschaftsverband. Bisher wurde an die Lebenshilfe für jeden Bewohner ein Pauschalbetrag ausgezahlt. Die neue Regelung sieht vor, dass die Zimmermiete, die Versorgung und die Freizeitaktivitäten einzeln „gebucht“ werden müssen.

„Drastisch ausgedrückt sind wir nichts mehr anders als ein Hotelbetrieb. Wir vermieten Zimmer“, erklärt Volker Reichmann, Leiter des Hauses der Lebenshilfe . „Ohne Anträge haben die Bewohner nur ein Zimmer und Verpflegung.“ Für jede weitere Leistung ist ein Antrag zu stellen. „Ich weiß nicht, ob ich dazu noch in der Lage bin“, erklärt Rolf Bonzel.

Für die Lebenshilfe dagegen droht die Finanzierung der laufenden Kosten unkalkulierbar zu werden. . „Da fragt man sich einfach, ob unsere Wohnstätte überlebensfähig ist“, sagt Hans-Jürgen Röhrig, Vorsitzender des Lebenshilfe-Kreisverbands, „das könnte den Konkurs bedeuten.“

Wer bekommt künftig die Eingliederungshilfe?

Wer Unterstützungsbedarf in mindestens fünf von diesen neun Lebensbereichen aufweist, hat Anspruch auf Geld: Lernen, Wissensanwendung, Mobilität, Selbstversorgung, „Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen“, Kommunikation, „Allgemeine Aufgaben und Anforderungen“, „ Bedeutende Lebensbereiche“, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben. Die Beurteilung, fürchtet Hans-Jürgen Röhrig, werde „vollkommen willkürlich“ ausfallen. „Wir haben auch ganz andere Wertvorstellungen als Personen in Behörden.“ Und auch Volker Reichmann empört sich: „Das wurde vom grünen Tisch aus entschieden.“

Und was ist mit der Pflegeversicherung?

Bisher bekommen geistig Behinderte, die in einer Pflegestufe sind, den Betrag, der ihnen zusteht, ausgezahlt. Bei Pflegestufe 3 sind das zum Beispiel 1729 Euro. Das Pflegestärkungsgesetz 3 begrenzt die Leistung für Menschen, die in gemeinschaftlichen Wohnformen leben, auf 266 Euro — die Eingliederungshilfe wird angerechnet. Wer also zum Beispiel in der Alte-Burg-Straße in Eschenbach betreut wird, verliert den Anspruch auf die Gelder aus der Pflegeversicherung. „Was passiert dann mit den Menschen?“, fragt Hans-Jürgen Röhrig. „Das sind reine Sparmaßnahmen.“

Was fordert die Lebenshilfe darüber hinaus konkret?

Das „Pooling“ muss weg. „Gabriele ist eher in sich gekehrt“, erzählt Rolf Bonzel. Wenn Gabriele aber künftig in ihrer Freizeit etwas tun möchte, zum Beispiel ins Kino gehen, müssen die anderen 23 Bewohner der Lebenshilfe-Wohnstätte mit. Die gemeinschaftliche Inanspruchnahme von Leistungen darf nur erfolgen, wenn die Beteiligten das auch wollen, fordert daher die Lebenshilfe. „Bei Menschen von Poolen zu sprechen ist widerwärtig“, findet Hans-Jürgen Röhrig.

Neu geregelt wird durch das neue Bundesteilhabegesetz auch der Vermögensfreibetrag, der auf bis zu 50 000 Euro erhöht wird. Diese verbesserte Möglichkeit zur Vorsorge, so die Kritik der Lebenshilfe, geht aber an denen vorbei, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten und auf Lebensunterhalt durch die Grundsicherung angewiesen sind. Für sie bleibt es bei der Vermögensgrenze von 2600 Euro.

Was tun die Aktiven der Lebenshilfe im Siegerland?

Rund 250 Mitglieder hat der Kreisverband der Lebenshilfe in Siegen-Wittgenstein, ein hoher Prozentsatz der Mitglieder hat das 75. Lebensjahr jedoch überschritten. „Man kann die Mitglieder nur informieren und mobilisieren“, sagt Wohnstättenleiter Volker Reichmann. Es gibt eine Online-Petition, und es werden Unterschriften gesammelt. Deutschlandweit wurde die Petition schon knapp 100 000 Mal unterschrieben, am 18. Oktober ist Deadline. „Die Lobby für die geistig Behinderten muss stärker werden“, fordert Reichmann. Und auch Rolf Bonzel, Vater von Andreas, Gabriele und Matthias hofft, „dass die Menschen, die dieses Gesetz beschließen, noch einmal darüber nachdenken.“

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Info

Am heutigen Mittwoch, 5. Oktober, um 11 Uhr findet vor dem Landtag Nordrhein-Westfalen, Platz des Landtags 1, eine Demonstration statt.

Dort wollen die Lebenshilfe, die LAG der Werkstatträte NRW und der Paritätische NRW für ein besseres Bundesteilhabegesetz werben.