Siegen. . An jedem dritten Sonntag im Monat erobern behinderte und nicht-behinderte Menschen gemeinsam die Wände im Kletterzentrum des DAV. Die persönlichen Erfolge machen den Betroffenen Hoffnung.
Gemurmel. Unvollständige Sätze. Kinder schreien wild durcheinander. Aufregung im DAV-Kletterzentrum Siegen. Mittendrin: Patienten der Celenus Klinik. Jeder von ihnen will seine neurologische Erkrankung heute Nachmittag für ein paar Stunden vergessen. Über sich hinauswachsen. Und klettern.
Mit Rollator und Rollstuhl tappen nach kurzer Einweisung alle in die Halle. Der blaue Boden ist weich. Gummiartig. Wie auf Wolken trippeln die Patienten der Celenus Klinik zwischen den Kletterwänden her. Sie freuen sich. Einer nach dem anderen schlüpft in den Klettergurt. „Ziemlich eng“, sagt Uwe Keiter und lacht. Noch blicken sie aufgeregt umher. Ein wenig skeptisch. Fast als würden sie sich fragen: „Pack’ ich das auch?“ Im hinteren Teil des Kletterzentrums kraxeln Kinder an Hängeleitern und bewundern die Menschen, die aus ihrem Rollstuhl den Schritt zur Wand wagen.
Ehrenamtliche Helfer
Unter dem Motto „Geht nicht, gibt’s nicht“ organisiert Miriam Krug Klettern für Menschen mit Handicap. Parallel kommen Patienten der Celenus Klinik. Jeder dritte Sonntag im Monat gehört Menschen mit Behinderung. Ehrenamtlich helfen die erfahrenen Kletterer des Deutschen Alpenvereins dann, die Krankheiten zu vergessen. Am Boden zu lassen. Sich nur auf den nächsten Griff, den nächsten Schritt an der Wand zu konzentrieren. Plötzlich bricht lauter Jubel aus. Klatschen. Pfeifen. Rufe. Alle drehen sich um. Ein junger, querschnittsgelähmter Mann hat es gepackt. Mit zwei Beikletterern hat er die Wand bezwungen.
„Eigentlich hatte ich andere Pläne“, erzählt Stephan Hehner. Der 46-Jährige – graue Kappe, Dreitage-Bart – hat Multiple Sklerose. „Aber auf dem Arbeitsmarkt nimmt einen keiner, wenn man nur drei Stunden fit ist und dann eine längere Pause braucht.“ Er lacht. Nimmt die Krankheit mit Humor.
Ute Vaupel – groß, zerzaustes Haar, freundliches Lachen – war früher Unteroffizierin bei der Bundeswehr. „Sport gehörte da zum Alltag. Heute will ich das Ganze einfach mal ausprobieren.“ Sie hat sich eine Route mit Schwierigkeit 3 ausgesucht. Mittlere Stufe. Linke Hand an den kurvigen Stein, rechte Hand an den grauen Stein daneben – los geht’s. Uwe Keiter und Stephan Hehner starren hoch. „Ganz schön flott, wie die Ute das macht“, sagt Hehner. Als sie oben ankommt, ballt sie die Faust. Alle jubeln. „Super Ute!“ Langsam segelt sie am blauen Sicherungsseil wieder nach unten. „Sollen wir die Schwester mal zum Blutdruckmessen holen?“, fragt eine Mitpatientin. Vaupel lacht. Atmet schwer. Schweißperlen kullern an ihrer Stirn runter. „Ein tolles Gefühl, ich hab’s mir vorgenommen und geschafft.“ Einer nach dem anderen wagt sich an die Wand. Mal mit Beikletterern. Mal ohne.
Ein kleines Nickerchen
Stephan Hehner ist der Nächste. Schritt für Schritt; Griff für Griff kraxelt er nach oben. „Du schaffst das“, rufen sie ihm von unten zu. Er rutscht ab. Alle zucken zusammen. Hehner packt einen gelben Stein. Hat wieder sicheren Halt. Pustet kurz durch. Greift nach dem nächsten Stein. Meter um Meter hangelt er sich hoch. Auch er erklimmt die Wand. Strahlt, als er unten wieder ankommt. „Das war anstrengend. ,Ja nicht so viele Pausen machen, sonst bleibst du hängen’, hab’ ich mir gedacht.“ Hehner reibt sich die Unterarme; wirkt geschafft. Aber glücklich. „Jetzt ist der Moment, wo ich ein Nickerchen machen könnte“, sagt er und setzt sich erstmal auf eine blaue Matte. Holt tief Luft. Atmet aus. Holt tief Luft und atmet nochmal aus. Wie jeder Mensch, der gerade geklettert ist. Zehn Meter hoch. Mit MS.
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Das sagen die Betroffenen über das Therapie-Angebot
„Ich lebe schon seit 35 Jahren mit meiner Krankheit. Deshalb mache ich viel Sport. Fitness, Krafttraining, Fahrradfahren. Klettern ist eine neue Herausforderung. Sport ist wie eine Droge für mich.“ - Holger Kieneck, 51
„Die ersten MS-Symptome hatte ich rückblickend 2008. Seit 2013 bin ich in Behandlung. Klettern war ich aber noch nie. Die Koordination und Motorik ist anspruchsvoll, aber es ist ein super Training.“ - Stephan Hehner, 46
„Ich hatte schlaganfallartige Symptome, und nur vorrübergehende Beeinträchtigungen. Klettern war ich erst ein Mal mit meinem Sohn. Ich hab’ mir trotzdem vorgenommen, bis ganz nach oben zu kommen.“ - Ute Vaupel, 51
„Ich bin zur Reha in Behandlung, weil ich Lähmungserscheinungen bis zur Hüfte hatte. Ich war schon mal klettern, aber noch nie nach meiner Erkankung. Ich will spüren, wie gut das Klettern tun kann.“ - Uwe Keiter, 52