Siegen. .
Der Abend beginnt voller Harmonie. Zarte Klavierklänge. Zwei Männerstimmen kommen hinzu, die sich perfekt ergänzen. Ein Konzert? Sie singen „We are the birds“. Doch die Vögel dieses Abends sind nicht niedliche, putzige, bunt- gefiederte Sänger. Sie schreien angsteinflößend. Die Schlechte-Nacht-Geschichte beginnt.
Angst und Gänsehaut
Schauspieler Matthias Brandt und sein kongenialer Partner Jens Thomas präsentieren und zelebrieren in den folgenden 80 Minuten die Kurzgeschichte „Die Vögel“ der Engländerin Daphne du Maurier, die diese 1952 veröffentlicht hat. Doch richtig bekannt wurde der Stoff durch den gleichnamigen Film von Alfred Hitchcock, dem Großmeister des Grauens, aus dem Jahr 1963. Es ist die Geschichte von Robert, der um seine verstorbene Frau trauert und dringend einen Tapetenwechsel braucht. Und der soll in einem einsamen Haus an der Atlantikküste stattfinden, ohne Telefon und Fernseher. „Die Trostlosigkeit seiner Existenz hatte ein Zuhause gefunden.“ Brandt und Thomas finden ihren eigenen Zugang auf verschiedenen Ebenen: der sprachlichen, musikalischen, perkussiven, gestischen, lautmalerischen und mimischen. Mit kleinen Bewegungen können sie Angst ausdrücken. Eine Pause an der richtigen Stelle und ein Augenaufschlag lassen Verzweiflung lebendig werden. Ein markerschütternder Schrei produziert Gänsehaut. Satzmelodien, atemlos im Stakkato herausgepresst, beschreiben den Schrecken Roberts, als er Vögel zum ersten Mal wahrnimmt, die ihn angreifen und verletzen.
Doch das ist erst der Anfang. Tausende von Raben und Möwen formieren sich im Rhythmus der Meeresgezeiten scheinbar unaufhaltsam zum Angriff. Sie dringen hackend, kratzend, beißend in sein Haus ein – und nicht nur seins. Keine Verteidigung ist möglich, Atempausen sind nur gewährt, wenn das Meer sich bei Ebbe zurückzieht.
Mörderisches Angriffslied
Alle bangen Hoffnungen auf ein Ende des Horrors erweisen sich als hoffnungslose Irrtümer. In der Nachbarschaft findet Robert zerstörte Häuser und fürchterlich zugerichtete Leichen. Auf der Bühne erklingt ein letztes Lied: „Blackbird“, Musikkennern als der zarteste aller Beatles-Songs in Erinnerung. Doch Matthias Brandt und Jens Thomas verwandeln dieses Lob auf zwitschernde Vögel in ein mörderisches Angriffslied, mehr geschrien als gesungen. Die letzten Hoffnungen Roberts sind gestorben, die schmatzenden Mörder schon im Haus. Die Erzählung endet: „Es ist kurz vor zwei. Sie kommen.“
Das Saallicht erlischt. Dunkelheit im Apollo. Die Zuhörer sind inzwischen tief in die Scheinsicherheit ihrer Theatersitze gesunken. Manch Ängstliche hat die Hand des Partners gesucht. Nach vielen Sekunden des Schweigens zunächst zaghafter, aufatmender Beifall, dass die aggressiven Mördervögel nicht auch das Theater heimgesucht haben. Ein Beifall, der sich zu einem Orkan der Begeisterung für zwei Künstler entwickelt, die alptraumhaftes, blankes Entsetzen lebendig und für etwas mehr als eine Stunde Raum und Zeit unwichtig werden ließen. Und mancher wird auf dem Heimweg durch die kalte Januarnacht verstohlen in den Siegener Himmel geschielt haben, ob auch da vielleicht ein Unheil droht.