Deuz. .
Angelika Kämpfer hat die Botschaft in vielen Sprachen und Schriften dabei. In den nächsten drei Tagen, so steht es auf dem Blatt in der Klarsichthülle, ist der Discountmarkt — hier folgen die letzten vier lateinischen Großbuchstaben — geschlossen. So einfach ist das mit Weihnachten in der Notunterkunft, die ihre Bewohner einfach das „Camp“ nennen.
Mit dabei hat Angelika Kämpfer den Refugee Guide in verschiedenen Sprachen. Auf 14 Seiten erfahren die Geflüchteten, dass Homosexualität normal ist in Deutschland, dass auf Flaschen Pfand erhoben wird, dass um 16.01 Uhr niemand mehr ins Büro kommt, wenn um 16 Uhr Feierabend ist. So einfach ist Deutschland.
Fremde Welt, fremde Buchstaben
Angelika Kämpfer ist Integrationslotsin und eine von 55 Aktiven im Arbeitskreis Willkommenskultur. Sie kennt jeden der 114 hier in der alten Hauptschule, fast jeden. „Die Kinder noch nicht so.“ Aber Mohamed. „Das Erste, was er sagte, war: Ich will zurück nach Bochum“, verrät die Deuzerin mit eigenen Ruhrgebietswurzeln. Bochum war seine erste Station in Deutschland. Und sie kennt Ahmed, der gerade seinen 36. Geburtstag feiern durfte. Ahmed stellt sich als Architekt, Lehrer und Dichter vor. Auf Deutsch. „Ich komme aus dem Irak.“
Das Depot ist das Herz des Hauses, viel mehr als nur eine Kleiderkammer. Sobald die Tür offen ist, trifft man sich in dem Klassenraum. Die Mädchen flanieren zwischen Kleiderständern und Regalen wie in der Boutique irgendwo in der Stadt. Auto-Kindersitze liegen oben im Regal. Wichtiges Zubehör, wenn ein Behördengang oder ein Arztbesuch ansteht. Dann sind die Kleinsten nämlich die besten Dolmetscher. Was gebraucht wird, steht auf der Pinnwand: außer Kleidung Fahrräder, Helme, Bügelbretter, Fernsehgeräte. Bestimmt schon drei Mal ist das komplette Sortiment umgeschlagen worden. „Es gibt in Deuz niemanden mehr, der das Depot nicht kennt“, behauptet Hermann Kämpfer. Und hat womöglich recht.
Helga Rock bringt Kinder in die Schule, die Anmeldetermine werden mitterweile zentral durch die Verwaltung vereinbart. Die Kleinen in die Grundschule, die Größeren in die weiterführenden Schule. „Die kommen hier in eine völlig fremde Welt“, weiß sie — und muss sich das doch gelegentlich immer wieder neu klar machen. Neulich wurde sie von jemandem gebeten, die Adresse des Hauptschul-Gebäudes einmal in lateinischen Buchstaben aufzuschreiben. Kein Wunder, dass der Mann den Treffpunkt mit Helga Rock verpasst hat. „Ich war schon ein bisschen ärgerlich“, gibt sie zu. Doch wie sollte ihr Schützling sich orientieren, wenn er die Straßenschilder nicht lesen kann?
Ankunft nach endlosen Odysseen
Eine Schule ist eine Schule. In den Fluren hängen die Stundenpläne für die täglichen Deutschkurse aus, für Beginners und für Advanced Learners. „Die Hoffnung ist, dass jemand da ist, der Englisch spricht“, sagt Dr. Johannes Müller, der auf seine Anfängergruppe wartet. Er ist einer von etwa zehn ehrenamtlichen Lehrern, die sich der Herausforderung stellen: fast jeden Tag neue Schüler, manche mit Universitätsabschluss, manche ohne jegliche Kenntnisse im Lesen und Schreiben. „Nur etwa die Hälfte beherrscht das lateinische Alphabet.“„Ich lerne gerade Albanisch und Arabisch“, sagt seine Kollegin Cornelia Schneider, die einen kleinen Fortgeschrittenenkurs unterrichtet.
Im Treppenhaus ist Berthold Siebel unterwegs. Ob er ein strenger Lehrer ist? „Die Leute kommen jedenfalls wieder“, sagt der pensionierte Studiendirektor, „das ist doch ein gutes Zeichen.“ „Ich liebe die deutsche Sprache“, wirft eine der Bewohnerinnen im Vorbeigehen ein. Es geht Richtung Küche, Richtung Feierabend, Richtung Winterferien.
Die Sprache — das ist die Voraussetzung, um einen Job annehmen zu können, auf eigenen Beinen zu stehen, in eine eigene Wohnung zu ziehen. „Leider erreichen wir nicht alle“, bedauert Ortsbürgermeister Dr. Herbert Kneppe, der die Willkommenskultur in Deuz koordiniert. Manche sind traumatisiert, andere einfach erschöpft. Jeder, der hier Pate ist, erfährt die eine oder andere Geschichte von monate-, manchmal jahrelangen Odysseen durch verschiedene Länder. Wie Helga Rock von der Mutter mit den fünf Kindern, deren 19-jähriger Sohn seine kleinste Schwester, gerade einmal fünf Jahre jung, acht Wochen lang durch Bulgarien getragen hat. „Das sind dann so Momente...“ Momente, in denen es eben nicht funktioniert mit dem Sich-Abgrenzen, um überhaupt weiter helfen zu können.
Thema ist all das meistens nicht. Nicht im Depot, nicht im Aufenthaltsraum, nicht draußen auf dem Schulhof. Die meisten Geflüchteten wollen erst einmal nicht erzählen, „und wir wollen sie nicht bedrängen“, sagt Helmut Kämpfer. „Die wollen lieber lustig sein.“ Endlich einmal wieder.
Das klappt
F
Unterrichtsräume: Die Stadt stellt ein zweites Klassenzimmer für die Deutschkurse zur Verfügung.
F Spielzimmer: Auch ein Spielzimmer für die Kinder ist nun gefunden worden — wie das Klassenzimmer ein Raum, der für Wohnzwecke sowieso nicht geeignet ist.
F Internet: Die Stadt hat ihr Einverständnis für einen Internetzugang am Hauptschulgebäude erteilt; jetzt kann auf Basis der Freifunk-Initiative ein WLAN-Netz installiert werden.
F Personal: Zum 1. Februar, so die Ankündigung auf der Bürgerversammlung, kommt ein zweiter Sozialarbeiter. Auch die beiden Hausmeister bekommen Verstärkung.
Das klappt nicht
G Ordnung: Es fehlt ein ständig präsenter Hausmeister — anders ist eine Gemeinschaftsunterkunft dieser Größe nicht zu organisieren, meint nicht nur Ortsbürgermeister Dr. Herbert Kneppe: „Da muss konsequent nachgehalten werden.“
G Ansprechpartner im Notfall: Im Zweifelsfall werden Ehrenamtliche alarmiert, wenn zum Beispiel nachts dringend jemand einen Arzt braucht.
G Ärzte: Das System mit dem hausärztlichen Notdienst, mit Rezepten und selbst zu bezahlenden Medikamenten ist Neuankömmlingen kaum zu vermitteln. „Die meinen dann, sie würden nicht behandelt, weil sie nicht deutsch sind“, berichtet Angelika Kämpfer nach solch einer abendlichen Odyssee.
Kommentar: Vermeidbare Kränkungen
Manche haben nicht viel mehr als die eigene Haut gerettet auf ihrer Flucht nach Deutschland. Auf den meist jungen Männern ruht die Hoffnung derer, die ihr ganzes Geld zusammengelegt haben, damit wenigstens einer das rettende Ufer erreicht. Im „Camp“, wie sie die Deuzer Hauptschule nennen, oder in einer anderen Notunterkunft richten sie sich ein. Und dann geht es auf einmal um völlig anderes: Ordnung, Sauberkeit, Ruhe, Pünktlichkeit.
Ob das nicht unangemessen kleinlich ist? Wer in den letzten Wochen Gelegenheit hatte, sich mit denen auszutauschen, die Willkommenskultur praktisch umsetzen, im Ehren- wie im Hauptamt, wird mit der schnellen Antwort vorsichtig sein.
Es dauert nie lange, bis nach dem fast schon pflichtschuldigen Bekenntnis zur Aufnahme der Geflüchteten das Gespräch auf Müllberge neben Mülltonnen und grenzwertige hygienische Bedingungen in Sanitär- und Küchenbereichen geführt wird. Fotos von gerade noch neuem, nun nicht mehr brauchbarem Mobiliar und vergammelten Lebensmitteln finden sich auf vielen Smartphones.
Darauf reagieren Einheimische empfindlich. Nicht, weil sie nicht verstünden, dass Menschen mit diesen Fluchterfahrungen anderes wichtiger sein könnte als deutsche Sekundärtugenden. Sondern weil sie ihren Einsatz für die Fremden gering geschätzt fühlen — die weggeworfene Dose ist eben auch, zumindest bildlich, ein weggeworfenes Geschenk. Und dieses Geschenk, so pathetisch das klingt, ist nicht weniger als das Angebot zur Teilhabe an einer Kultur, auf die Menschen hierzulande stolz sind.
So empfundene Herabwürdigung kann dazu führen, dass sich irgendwann Türen nicht mehr öffnen. Das ist vermeidbar: mit Kommunikation, mit Integration, natürlich. Ganz konkret mit Menschen, die präsent sind und vermitteln. Deren Arbeit kostet Geld, wie das Dach über dem Kopf auch. Aber ohne sie, rein ehrenamtlich, wird das auf Dauer nichts mit der Willkommenskultur.