Siegen. Siegen hat wieder auf die Mütze gekriegt: Die Stadt sei hässlich, grau, absolut entsetzlich, findet eine Autorin der „Welt“. Wie originell. Das haben wir ja noch nie gehört!

Siegen hat es wieder abbekommen. Knüppeldick. „Siegen ist die schrecklichste Stadt der Welt“, befindet Hannah Lühmann aus Berlin jüngst in der „Welt“. Eigentlich geht es in ihrem Artikel um eine Heidegger-Tagung an der Uni – aber wenn man schon hier ist, kann man ja auch gleich noch ein vernichtendes Urteil über die Stadt fällen. Ist auch total originell: Journalisten von außerhalb ziehen selten über Siegen her.

Lühmann hat während ihres dreitägigen Aufenthalts Interessantes beobachtet: „Es weiß ja jeder, dass da nichts ist in Siegen als Lagerhallen und längliche Erdgeschossläden, die aussehen wie Lagerhallen.“ Ja, wie oft gehe ich durch die Altstadt oder durch den Schlosspark, durch den historischen Tiergarten oder Meiswinkel und denke mir: „Mensch – all diese Lagerhallen!“ Gut, manche davon sehen aus wie Schlösser, Kirchen oder Wohnhäuser, aber dank der „Welt“ wissen wir nun: Es sind alles Lagerhallen. Danke für die Aufklärung. Manchmal fühle ich mich sogar selbst wie eine Lagerhalle.

Überhaupt hat Kollegin Lühmann – darf ich sie als Provinzredakteur überhaupt „Kollegin“ nennen? – sich vor ihrem Artikel ein echt ausgewogenes Bild von der Stadt gemacht. Ihren Ausführungen nach bewegte sie sich vom Bahnhof Siegen zum Eichenhang und

Freudlose, frustrierte Menschen, die nur arbeiten im Sinn haben und das Leben nicht genießen können. Zu beobachten in Siegen.
Freudlose, frustrierte Menschen, die nur arbeiten im Sinn haben und das Leben nicht genießen können. Zu beobachten in Siegen. © WP

wieder zurück. Viel mehr scheint sie ihrer Schilderung nach nicht gesehen zu haben, aber einer versierten Autorin aus der Hauptstadt reicht ein solcher Eindruck, um eine Situation bewerten zu können. Eigentlich ist eine der ersten Lektionen, die Journalisten lernen, sich vor dem Schreiben erst mit allen Fakten vertraut zu machen. Eine Stadt aufgrund eines geringen Ausschnitts niederzumachen ist journalistisch in etwa so seriös, als würde man einen Künstler verreißen, nur weil einem das erste Bild in der Ausstellung nicht gefällt, ohne sich den Rest überhaupt anzuschauen. Oder als würde man Berlin aufgrund einzelner hässlicher Ecken als ästhetische Gesamt-Beleidigung geißeln. Und ich war schon in Berlin: Da gibt es verdammt hässliche Ecken.

Aber gut, seien wir nicht kleinlich. Immerhin können wir aus dem „Welt“-Beitrag noch viel lernen. Zum Beispiel: „Siegen ist grau, die Pizzerien riechen nach Schwimmbad“. Die Pizzerien, die ich hier kenne, riechen nach Essen; aber vielleicht wird in Berliner Schwimmbecken kein Chlor ins Wasser gekippt, sondern Tomatensoße. Was wir auch noch lernen: „Das Navigationsgerät versagt in Siegen.“ Das Navi brauchte Frau Lühmann nämlich, um sich den Weg vom Artur-Woll-Haus zur Uni-Mensa ansagen zu lassen.

Hässlich wie die Nacht: Das Apollo Theater am Scheinerplatz in Siegen.
Hässlich wie die Nacht: Das Apollo Theater am Scheinerplatz in Siegen. © WP

Zu Fuß wären das 15 Minuten, einfach den Berg rauf, es ist ausgeschildert. Außerdem könnte man Leute auf der Straße fragen, die geben bei freundlicher Ansprache Auskunft. Statt dessen schildert die Kollegin, wie sie „Serpentine um Serpentine... durch traurige Nadelwälder tiefer hinein in den Stadtkern“ gelotst wurde. Die Siegener Serpentinen, wer kennt sie nicht... bei dieser Beschreibung würde ich raten, über ein neues Navi nachzudenken.

Die Kommentare unter dem Artikel gehen mit Frau Lühmann teilweise recht hart ins Gericht. Ein „Prinzessinnenkomplex“ wird der Kollegin, Jahrgang 1987, da unterstellt, „die

Setzt der Scheußlichkeit die Krone auf: Die Nikolaikirche in der Siegener Oberstadt.
Setzt der Scheußlichkeit die Krone auf: Die Nikolaikirche in der Siegener Oberstadt. © www.blossey.eu

typische Provinzverachtung der jungen Frauen“. Eine andere Userin fragt angesichts von so viel Verächtlichkeit: „Warum nur gibt es in Deutschland so viele Giftspritzen“? Und ein User weist darauf hin, dass es die „Welt“ war, die als Medienpartner der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ auftrat, als deren Jury Siegen im Jahr 2013 wegen des „Neue Ufer“-Projekts für einen Publikumspreis nominierte. Den die Stadt übrigens auch gewann.

Seltsam nur, dass der „Welt“-Beitrag in der Online-Version dann ursprünglich mit einem Foto der Siegplatte bebildert wurde, um die aktuelle Hässlichkeit zu dokumentieren. Kann ja mal vorkommen: Schließlich wurde die Siegplatte erst 2012 abgerissen. Wie hätte gerade eine Journalistin der „Welt“ drei Jahre später an diese Information kommen sollen?

Siegen-Schelte mit Tradition - immer wieder Ziel überregionaler Häme 

Der Welt-Artikel „Hier wird Heidegger der Prozess gemacht“ ist nicht die erste Gelegenheit, bei der überregionale Medien die Stadt Siegen verreißen. Eine Auswahl:

Der Film Siegen – Notizen zu einer Stadt von Heinrich Vormweg kam bei seiner Erstausstrahlung im WDR 1966 so schlecht an, dass er fortan unter Verschluss gehalten wurde. Vormweg, 1928 in Geisweid geboren, ließ an der Heimat kaum ein gutes Haar: Weder an der Stadt noch an den Menschen.

Entsetzlich: Die Sieg ohne Platte. Wo sollen wir nur parken?
Entsetzlich: Die Sieg ohne Platte. Wo sollen wir nur parken? © WP

Als Meilenstein der Siegen-Schelte gilt Hanjo Seißlers Was ist schlimmer als verlieren? Siegen! , 1996 im Süddeutsche Zeitung-Magazin erschienen. Der Autor kehrte nach langer Zeit an den Ort seiner Schulferien zurück und hätte nach eigenem Bekunden „schreien“ und „weinen“ wollen. Das war nicht verwunderlich: Inzwischen war die Sieg unter einem Betonungetüm von Parkplatz verschwunden und der Park in der Eintracht der Siegerlandhalle gewichen – um nur zwei Aspekte zu nennen. Selbst eingefleischte Siegen-Fans müssen zugeben: Städtebaulich und architektonisch haben die 60er und 70er Jahre der Stadt nicht gut getan. Etliche Bausünden von damals werden mittlerweile beseitigt. Für viel Geld, und aus gutem Grund. Seißlers Verlieren-Siegen-Spruch hält sich hingegen hartnäckig.

Der Tagesspiegel interviewte 2010 den Comedian David Werker. Er studiere „Germanistik in Siegen bei Bonn“. Werker befand: „Die schönsten Orte in Siegen sind eigentlich die Autobahnauffahrten nach Köln.“ Wie witzig.

2013 konnte sich das Handelsblatt nicht für die Stadt begeistern: „Selbst Siegener... kommen schwerlich auf die Idee, ihre Industriestadt als schön zu bezeichnen“, steht da geschrieben.

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