Siegen. Manche Geschichten bekommen via Facebook und Twitter ein rasantes Eigenleben. Der Wissenschaftler Sebastian Gießmann von der Uni Siegen erklärt warum.

Ein junger Mann will seinen Opel auf Ebay versteigern und erhält dank riesigem Medienhype um sein Inserat ein Höchstgebot von 55 700 Euro. Ein Imbissbesitzer aus Bestwig lässt die Facebook-Gemeinde wissen, er verschenke Döner an Bedürftige - und wird kurz darauf in ganz Deutschland gefeiert. Internetphänomene wie diese sind allgegenwärtig - es gibt gibt positive, aber auch viele Negativbeispiele. Doch wie entstehen sie eigentlich?

Eine der spektakulärsten Geschichten ist wohl diese: „Ich fliege nach Afrika. Hoffe, ich bekomme kein AIDS. Mache nur Spaß. Ich bin weiß.“ Bei einer Zwischenlandung in London hatte Justine Sacco, PR-Beraterin aus New York, 2013 jene verhängnisvollen Zeilen getwittert - offenbar in der Absicht, einen Scherz zu machen, wenn auch keinen besonders lustigen. Sie war auf dem Weg nach Südafrika, um in Kapstadt mit ihrer Familie Weihnachten zu feiern. Doch was dann folgte, illustriert auf extreme Art und Weise die Auswirkungen von sozialen Medien. Als sie aus dem Flugzeug ausstieg, war sie ihren Job bei einem Medienkonzern los. Grund: rassistische Äußerungen. Im Internet hatte sich rasend schnell ein Sturm der Empörung entwickelt.

Offizieller Charakter

Für den Medienwissenschaftler Sebastian Gießmann von der Universität Siegen zeigt dieses drastische Beispiel: „Äußerungen in sozialen Netzwerken wirken wie eine schriftliche Verlautbarung.“ Besonders bei Twitter verschwämmen Privates und Öffentliches. Eine Aussage, die im normalen Gespräch einfach so dahingesagt werde, erhielte im Netz offiziellen Charakter. In der virtuellen Welt fragt niemand nach, ob ein Satz auch wirklich so gemeint war. Ob er tatsächlich die Haltung der betreffenden Person widerspiegelt oder unbedacht eingetippt wird.

Wenn eine Aussage oder ein Bild erst in seinem sozialen Netzwerk kursiert, tritt schnell der „Schneeballeffekt“ ein. Grundsätzlich sei die Kommunikation im Internet nichts weiter als ein Abbild der Kommunikation im „realen Leben“, sagt Gießmann. Mit der Veröffentlichung in einem sozialen Netzwerk kommt es jedoch zu einem Beschleunigungsphänomen. Weil sich im Netz alles unglaublich schnell verbreitet, treten für kurze Zeit soziale Normen außer Kraft. Man denkt nicht nach, man teilt, kommentiert, leitet weiter. Die Reflexion - war der Hype um dieses Thema wirklich sinnvoll? - setzt erst im Nachhinein ein.

„Parkhausparty“ in Siegen

Ein perfektes Beispiel dafür ist die international bekannt gewordene „Parkhausparty“ an der Uni Siegen. Ein Student hatte sich mit seinem Golf zwischen zwei recht wenig platzsparend geparkte Autos gezwängt und war durch den ­Kofferraum nach draußen geklettert. Das fand die Fahrerin des daneben parkenden Peugeots gar nicht lustig - und veröffentlichte prompt eine wütende Nachricht samt Foto in der Uni Siegen-Facebookgruppe.

Wenig später herrschte ­­Ausnahme­zustand. Der Golffahrer, Baris ­Kücük, wurde als Held gefeiert, die Peugeotfahrerin dagegen übel angefeindet. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Uni Siegen-Gruppe 2000 neue ­Mitglieder, die der ­Diskussion gebannt folgten. Viele Medien berichteten, die Studenten feierten eine gigantische Parkhausparty.

Wie lange sich ein Internetphänomen hält oder immer wieder ­auftaucht, hängt von ­mehreren Faktoren ab. Zum einen werden nach einem ­Ereignis oft sogenannte ­Memes ­erstellt: zusammengebastelte Bilder mit einem dazu passenden Spruch. So wird Baris Kücük auf einem ­Meme von Angela Merkel für sein spektakuläres Parkmanöver gelobt - das kann sowohl bei ­konkretem ­Anlass als auch einfach zum Spaß wieder hervorgeholt ­werden. Doch auch wenn ein ähnliches ­Phänomen journalistische Aufmerksamkeit erlangt, wird eine alte Geschichte gerne wieder ausgegraben.

Bleibt zu fragen: Was muss man eigentlich haben, um einen Internet-Hype auszulösen? „Eine rationale Erklärung ist schwierig“, sagt Gießmann. Oft seien es aber alltäg­liche und authentisch wirkende Geschichten, die besonders oft geteilt würden. Oft folge nach dem ersten Rummel aber die Enttäuschung. Opel-Versteigerer Firat Demirhan kann davon ein Lied singen. Wochenlang berichteten die Medien über das unglaubliche Höchstgebot von 55 700 Euro. Beim geplanten Treffen mit dem potenziellen Käufer kam die Ernüchterung: Der tauchte einfach nicht auf.