Siegen. .
Psychodelische Stimmgeräusche, zuerst im Countertenor-Bereich, dann hinuntergleitend zum tiefen Bariton. Einen ungewöhnlicheren Auftakt zu einer Lesung haben selbst routinierte Theaterbesucher noch nie gehört. Plötzlich ein markerschütternder Schrei. Norman Bates tritt auf. Das Kopfkino kann beginnen.
Bekannter Mord der Filmgeschichte
Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“ hat, seit der Film 1960 uraufgeführt wurde, noch jeden Cineasten gefesselt. Vor allem durch den Hauptdarsteller Anthony Perkins, der dem Psychopaten Norman Bates und seinem Doppelleben mehr als Fleisch und Blut gibt. Bates hat vor Jahren seine Mutter getötet. Die hing in krankhafter Liebe an ihrem Sohn, sah in jeder jungen Frau eine Rivalin, die es auszuschalten galt. Doch in Wirklichkeit hat sie ihn sein Leben lang bevormundet und gedemütigt: „Du bist ein Muttersöhnchen und Hosenscheißer – und impotent!“
Doch nun sitzt Mutter mumifiziert im Obstkeller. Von Zeit zu Zeit zieht Bates ihre Kleider an, spricht mit ihrer Stimme und handelt in ihrem Sinne: Indem er mordet. Seine Opfer sind junge Frauen, die sich zu seinem abgelegenen Motel verirren und von denen er weiß, dass sie dort keiner vermutet.
Sein letztes Opfer ist Mary. Sie nimmt ein Zimmer für sieben Dollar die Nacht. Sicherlich nicht ihr Traum und statt Badewanne eine Dusche mit Plastikvorhang. Doch sie hat keine Wahl, sie ist auf der Flucht. Mary durchschaut Bates und seine tiefen Mutter- und Schuldkomplexe. Und das ist ihr Todesurteil. Das Badezimmer wird Schauplatz eines der bekanntesten Morde der Filmgeschichte. Am Ende entlarvt sich Bates selbst. Er gibt sein Doppelleben auf und wird ein wimmerndes Häuflein Elend, das den Rest seines Lebens eingesperrt verbringt. Ein Alptraum, 1960 in den Kinosälen, 2015 im Apollo-Theater, ist zu Ende.
Erschreckend realistisch
Es sind also große Spuren, in die Matthias Brandt mit der Lesung des Romans von Robert Bloch tritt, der dem Film zur Vorlage wurde. Doch Brandt, einer der profiliertesten Charaktere des deutschen Films, Fernsehens und Theaters, zeigt von der ersten Sekunde an, dass er diese Aufgabe mit Bravour meistert. Er versucht gar nicht erst, Anthony Perkins und dessen melancholisch-irren Blick zu kopieren. Er interpretiert den Text und spielt Bates, so wie er ihn sieht, manchmal auch mit augenzwinkernder ironischer Distanz. Selten ist Psychopathie auf der Bühne so erschreckend realistisch und verstörend dargestellt worden wie von Matthias Brandt und seinem kongenialen Pianisten und Stimmkünstler Jens Thomas.
Selbst, als gefühlt drei Minuten auf der Bühne nichts passiert (die Akteure schlafen wie Bates, der von seiner Mutter träumt), ist atemlose Stille im Saal, die durch einen erschreckenden Schrei und atonale Tonkaskaden des Flügels jäh zerrissen wird.
Stehende Ovationen belohnen zwei Künstler und ihre außergewöhnliche Leistung. Und die bedanken sich mit einer Zugabe, ebenso passend wie megaschräg anmoderiert: „Im Obstkeller von Norman Bates befand sich neben seiner Mutter außerdem ein Musikarchiv, dessen sich ACDC bedient hat.“ Daher die passende Zugabe: Der Rockklassiker „Highway to Hell“ als morbide Psycho-Ballade.