Meschede. Im Juli 2023 wird eine 16-jährige Jugendliche am Bahnhof in Freienohl überfallen. Wer sind die Täter und was waren ihr Motive?

Sie nimmt Antidepressiva, um die Angst zu vergessen. Um den Schmerz zu heilen, der ihr zugefügt wurde. Sie ist gerade einmal 16-Jahre alt, als sie am Freienohler Bahnhof von drei unbekannten Männern im Alter zwischen 18 und 20 Jahren brutal angegriffen und ausgeraubt wird. Heute, mit 17 Jahren, sitzt sie im Amtsgericht Meschede. Vor sich eine Jugendrichterin, mit im Saal zwei der Angreifer. Während sie spricht, rollen ihr Tränen über die Wangen. Die Tat habe sie bis heute nicht losgelassen. Es ist die Angst, die bleibt. Eine Gerichtsverhandlung in drei Akten.

Akt 1: Die Täter

Die zwei Angeklagten aus Meschede werden in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Begleitet werden sie von zwei Verteidigern und drei Justizbeamten. Heute müssen sie sich ihren Taten stellen. Der 20-Jährige ist angeklagt in zwei Fällen. Der 19-Jährige in mindestens sieben. Beide sind polizeibekannt: Räuberische Erpressung, unerlaubter Handel und Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Haftpflichtversicherung. Die Liste ist lang - genauso wie der heutige Verhandlungstag. Insgesamt zehn Zeugen sind geladen. Darunter das Opfer, dass sie am Sonntagmorgen, 30. Juli 2023, zusammengeschlagen und beraubt haben sollen.

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Der 19-Jährige blickt immer wieder zu seinen Eltern. Sie sitzen als Zuschauer in der ersten Reihe, sind angespannt, ab und zu sieht man ein ungläubiges Kopfschütteln. Doch helfen, können sie ihrem Sohn in dieser Situation jetzt nicht. Während der Befragung meldet sich plötzlich sein Vater zu Wort: „Darf ich auch etwas sagen?“. „Nein“, ist die klare Antwort, des Jugendschöffengerichts. Der Mescheder sitzt seit seiner Festnahme im September 2023 in der JVA Wuppertal. Auch dagegen können seine Eltern nichts tun.

Für den 20-jährigen Angeklagten ist nur ein Freund zur Verhandlung gekommen. Wie er später erklärt, habe seine Lebenssituation ihn damals zu den zwei Taten geführt. Obdachlos, kein Geld, keine Unterstützung.

In Freienohl in der Nähe des Bahnhof hatte der Angriff stattgefunden.
In Freienohl in der Nähe des Bahnhof hatte der Angriff stattgefunden. © WP | Stefan Pieper

Bei der Tat sei Alkohol im Spiel gewesen und davon eine Menge: Eine ganze Flasche Bacardi und eine halbe Kiste Bier. So viel erinnert sich der 19-Jährige an dem Abend getrunken zu haben. Richterin Vogt fragt sich, wie er es geschafft habe, danach überhaupt noch stehen zu können: „Ich habe in dieser Zeit regelmäßig am Wochenende getrunken“, lautet die Antwort. Auch bei dem 20-Jährigen sei viel Alkohol geflossen. Gemeinsam mit 10 bis 15 Freunden haben sie an diesem Abend am Sportplatz in Freienohl getrunken: „Das ist schnell ausgeartet“, erinnern sich die beiden.

Am Bahnhof, während der Tat, waren sie dann aber nur noch zu Dritt. Der dritte Täter ist bis heute unbekannt. Keiner der beiden Angeklagten will verraten, um wen es sich dabei handelt. Durch den Alkohol sei ihr Gedächtnis getrübt: „Ich erinnere mich nicht an alle Details, aber dass ich auf den Kopf des Mädchens eingeschlagen habe, weiß ich noch“, erinnert sich der 19-Jährige. Sein Mittäter räumt ein, dem Opfer in die Rippen getreten zu haben, als es ihnen den Pin ihres Handys falsch mitteilte. Erbeuten konnten die Freunde letztlich zehn Euro in Bar, und das IPhone 12 der Geschädigten. Dieses setzten Sie zurück und verkauften es für 290 Euro. Den Gewinn teilten sie sich.

Doch wie kommen zwei junge Männer darauf, ein 16-jähriges Mädchen so brutal anzugreifen? Eine mögliche Antwort darauf ergibt sich aus einer Anmerkung eines Verteidigers. Demnach sollen die Täter davon ausgegangen sein, dass es sich bei dem Opfer um einen Jungen handelte - bis sie bei ihren Schlägen und Tritten dann plötzlich einen BH bemerkten.

Heute zeigen sich die beiden Angeklagten reuevoll und räumen alle ihre Taten vor dem Gericht ein. Die Zeit in der JVA habe sie nachdenken lassen, der 19-Jährige fühlte sich dadurch „wachgerüttelt“ und ist sich sicher, dass er „nie wieder dorthin zurückwill“. Die beiden Täter bedauern, dem Opfer „sowohl seelisches - als auch körperliches Leid angetan zu haben“ und wollen sich im Laufe der Verhandlung auch persönlich bei der Geschädigten entschuldigen. Dazu soll es nicht kommen.

Akt 2: Das Opfer

Das Opfer betritt mit seiner Mutter den Gerichtssaal. Am Anfang erzählt die Jugendliche gefasst, was ihr in dieser Julinacht geschehen ist: „Ich war auf dem Weg nach Hause, kam gerade von der Arbeit. Als ich die drei Männer gesehen habe, hatte ich sofort ein schlechtes Gefühl.“ Ein Gefühl, das sich bestätigen sollte: Als sie an den Männern vorbeiging, geschah alles ganz schnell. Die Idee für den Angriff sei den Tätern „spontan“ gekommen. Sie schubsten sie auf eine Bank und verlangten Ihre Wertgegenstände. Besonders im Fokus: Das Handy. „Sie brauchten meinen Pin und meine Apple-ID, um das Gerät zurückzusetzen. Als ich ihnen versehentlich die falsche ID nannte, schlugen und traten sie mich.“ Aber es war nicht nur körperliche Gewalt, die der Schülerin zugefügt würden. „Sie machten sich über mich und mein Aussehen lustig. Fanden es witzig, wie mein Gesicht nach ihren Schlägen aussah.“ Gedauert habe der Angriff ungefähr 50 Minuten - genau könne sich da so niemand wirklich dran erinnern. 50 lange Minuten, die die 17-Jährige bis heute verfolgen.

Der Vorplatz des Bahnhof: der Busbahnhof in Freienohl.
Der Vorplatz des Bahnhof: der Busbahnhof in Freienohl. © Archiv

Ihre Mutter habe an dem Abend auf sie gewartet: „Ich habe den Angreifern gesagt, dass sich meine Mutter sicher Sorgen macht und ich nach Hause muss“, erzählt die Freienohlerin. Daraufhin schrieben sie ihr wohl eine Nachricht. Bei der Erinnerung daran fließen auch bei der Mutter die Tränen. Ihre Tochter sei laut eigenen Aussagen wie eine Geisel gehalten worden: „Sie konnten mich ja nicht gehen lassen, aber mit mir dort zu bleiben war auch keine Option.“ Als dann eine Freundin des 19-Jährigen am Tatort auftauchte, ließen die Angreifer ihr Opfer gehen.

Nach dem Angriff musste sie zwei Tage im Krankenhaus verbringen. In den ersten Nächten habe sie nicht schlafen können: „Immer wenn der Regen gegen das Fenster geprasselt ist, dachte ich, da steht jemand.“ Die Angst verfolge sie überall. Selbst, wenn sie zu Hause eine dunkle Treppe hinunterlaufen muss. Seit dem Angriff ist die 17-Jährige in Therapie, nimmt Antidepressiva, um sich in der Schule konzentrieren zu können und den Alltag zu überstehen: „Wenn ich die Tabletten mal nicht nehme, merke ich das direkt.“

Akt 3: Das Urteil

Die Verhandlung dauerte insgesamt achteinhalb Stunden. Es muss den Angeklagten lang vorgekommen sein. Wahrscheinlich ging es auch ihrem Opfer so, als sie sie im Sommer letzten Jahres überfallen haben. Doch das ändert nichts an dem Urteil: Der 19-jährige Angeklagte wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Der 20-Jährige zu einer Jugendstrafe von einem Jahr. Beide auf Bewährung. Der Grund für die Entscheidung: „Beide Angeklagten waren geständig, was sich auch im Strafmaß widergespiegelt hat“, so Doris Goß, Direktorin des Amtsgerichts Meschede.

Was bleibt, ist auf der einen Seite die Angst und auf der anderen die Reue. Die persönliche Entschuldigung der beiden Angeklagten lehnte die Geschädigte ab. Die Richterin nickte verstehend. Eine Entschuldigung - egal wie aufrichtig sie auch sein mag - könne das Ganze schließlich auch nicht mehr ungeschehen machen.