Meschede. Die berührendsten Plus-Geschichten des Jahres: Hier erklärt eine ergraute 36-Jährige, warum sie ihre Haare nicht mehr färbt.
Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 19. Juni 2020 erschienen.
Vor drei Jahren fällte Kristin Carstens (36) eine Entscheidung: „Ich werde meine Haare nicht mehr färben. Ich möchte grau werden.“ Für diesen Schritt bekam sie viel Zuspruch, aber manche Kommentare von wildfremden Menschen, machten sie sprachlos.
Im Jahr 2017 w urde bei Kristin Carstens aus Meschede der Grüne Star diagnostiziert. Eine Augenkrankheit, die zur Erblindung führen kann. Da die Erkrankung bei ihr früh diagnostiziert wurde und sie nun gut eingestellt ist, wird das nicht passieren. Und dennoch löste die Diagnose etwas in der damals 33-Jährigen aus: „Mir wurde klar, dass ich gar nicht weiß, wie ich wirklich aussehe.“
Das erste graue Haar mit 14 Jahren
Mit 14 Jahren hatte sie das erste graue Haar entdeckt – „Seitdem habe ich meine Haare immer gefärbt.“ Und dabei wirklich nichts ausgelassen: Blond, braun, grün, pink und zuletzt ombre – also ein dunkler Ansatz und einen Schopf, der in den Längen immer heller wird. Krasse Typveränderungen gehörten also seit fast 20 Jahren dazu. Nun wollte sie einmal sie selbst sein. Doch für diese Typveränderung saß sie diesmal nicht drei Stunden im Salon, sondern benötigte mehr als ein Jahr lang Geduld.
Viele Kommentare von Frauen
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So lang dauerte der Übergang zum Ich, so lang dauerte es, bis die grauen Haare eine entsprechende Länge hatten. „Am Schlimmsten sah es zwischen sechs Wochen und sechs Monaten aus“, erzählt Kristin Carstens. Oben waren die grauen Haare einige Zentimeter breit zu sehen, dann kam der dunkle Ombre-Ansatz mit den helleren Längen. „In dieser Zeit wurde ich auch am häufigsten angesprochen und beobachtet. Meistens von Frauen“, erzählt sie.
Der traurige Höhepunkt in der Mescheder Fußgängerzone
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Trauriger Höhepunkt war die Begegnung mit einer fremden Frau in der Mescheder Fußgängerzone. Schon vorher hatte Kristin Carstens ihre taxierenden Blicke gespürt. Die Unbekannte sagte zunächst freundlich: „Weißt Du, es gibt günstige Möglichkeiten, sich die Haare zu färben. Zum Beispiel mit Produkten aus der Drogerie.“ Carstens erklärte ihr, dass sie ihre Haare extra nicht mehr färben möchte. Es sei Absicht. Darauf reagierte die Unbekannte erbost und sagte: „Dein Mann tut mir leid. Man darf sich als Frau nicht so gehen lassen.“ Kristin Carstens war geschockt. „Ich war plötzlich so verunsichert. Und dachte plötzlich: Wirke ich so auf andere Menschen? Deshalb kaufte ich bei dm eine Tönung, die ich dann aber nicht benutzt habe.“ Sie ist stolz darauf, durchgehalten zu haben. „Mich hat diese Zeit gestärkt“, ist sie sicher.
Reaktion der Eltern war ebenfalls interessant
Interessant war auch die Reaktion ihrer Eltern. Der Vater, selbst schon früh grau geworden, fragte: Warum soll es bei Frauen ein Makel sein, was bei Männern ganz normal ist? Ihre Mutter war jedoch skeptisch. Sie befürchtete einen Spießrutenlauf, der sich wie oben beschrieben ja auch bewahrheitete. Aber auch ein anderer Gedanke spielte eine Rolle: Warum sollte die Tochter früher zu den grauen Haaren stehen als sie selbst? „Gerade bei uns Frauen bedeutet das Grauwerden ja auch Altwerden“, erklärt Kristin Carstens. Das sei nicht so leicht, wenn einem schon als Mädchen gezeigt werde, wie wichtig die Selbstoptimierung sei. „Für meine Söhne haben graue Haare witzigerweise nichts mit dem Alter zu tun. Für sie ist grau nur eine Haarfarbe – wie blond oder braun.“
- Mit zunehmendem Alter produziert der Körper weniger Melaninpigmente, die dem Haar ihre Farbe verleihen. Eumelanin ist das Schwarz-Braun-Pigment. Phäomelanin ist verantwortlich für hellblonde, blonde und rote Haare. Fehlendes Melanin wird durch Einlagerung von Luftbläschen in den Haarschaft ersetzt. Solche Haare erscheinen für das menschliche Auge grau bis weiß.
- Wie lang der Körper Farbpigmente produziert ist genetisch festgelegt. Einige Forscher vermuten auch Stress als Ursache für vorzeitiges Ergrauen.
- Aufsehen in den Medien erregte vor drei Jahren die TV-Moderatorin Birgit Schrowange, die sich mit fast 60 Jahren entschieden hatte, die Haare nicht mehr zu colorieren und dann plötzlich mit grauen Haaren auftrat.
Nach sechs Monaten ließ Kristin Carstens die Haare schneiden und die Spitzen bleichen. „So wirkte der Ansatz nicht mehr ganz so hart. Sondern eher wie ein ungewöhnliches Ombre.“ Nach etwa eineinhalb Jahren war der Schopf dann komplett ergraut. „Ich fand es sehr spannend, weil die Haare ja auch nicht alle gleichgrau sind. Ich habe bestimmt vier verschiedene Grautöne auf dem Kopf.“ Ihr Longbob wirkt dadurch sehr lebendig – und natürlich.
Sogar Friseure denken, ihre Haare sind gefärbt
„Ich wurde schon von so vielen gefragt, welche Farbe ich verwende. Sogar Friseure fragen häufig nach, ob das wirklich meine Naturhaarfarbe ist und welche Pflegeprodukte ich verwende“, sagt die 36-Jährige und lacht. Ihr spiele natürlich auch die Tatsache in die Karten, dass gefärbte Aschtöne gerade im Trend liegen. Aber die schönsten Komplimente gibt es nicht im Salon oder auf Instagram, wo sie regelmäßig Fotos ihrer grauen Haare postet, sondern zu Hause. Die Söhne sagen nämlich: „Mama ist silber.“