Meschede. Eine Erbschaft, eine Kommune in Bochum, die Reise nach Asien, Leben im Slum: So bringt ein 20-Jähriger aus Meschede die Pocken in seine Heimat.

Einer aus der Kommune hat 1969 von seiner Oma Geld geerbt. Wie es sich für eine Kommune gehört, sollen alle davon profitieren: Mit dem Geld wird ein gebrauchter VW-Bulli gekauft, um nach Asien zu fahren. Erst durch diese Erbschaft wird der Pocken-Ausbruch in Meschede überhaupt erst möglich. Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Unter keinem guten Stern

Bernd K. aus Meschede gehört zu dieser „Kommune Eulenbaum“ in Bochum. Der 20-Jährige hat eine Lehre als Elektriker gemacht. Die Kommune will das Zusammenleben von Studenten, Arbeitern und Lehrlingen erproben - es ist die Zeit der 68er. Die Mitglieder sind in Hippie-Lokalen in Bochum und Dortmund bekannt: Sie fahren auf Motorrädern vor, die sie aus Schrottmaschinen gebastelt haben. In der Sprache der damaligen Zeit werden sie abfällig als „Gammler“ bezeichnet.

Auch interessant

Anfang August 1969 geht die Fahrt los. Es wird den acht Reisenden nicht gut ergehen. Die Reise, die angeblich auch zum Drogenkonsum in Asien dienen soll, steht unter keinem guten Stern. Der Kommunen-Vorsitzende kann schon nicht mitfahren, weil er bereits an Gelbsucht erkrankt ist. Bernd K. ist in seiner Kindheit wegen einer Allergie nicht gegen Pocken geimpft worden. In Istanbul (Türkei) lässt er sich am 2. September in der „Impfstelle für Ausländer“ gegen Pocken und Cholera impfen. Hier passiert der fatale Fehler: Es findet keine Kontrolle über den Impferfolg statt. In Kabul (Afghanistan) erkrankt die Gruppe an Gelbsucht. Sie trennt sich, auch weil das Geld ausgeht. Zwei von ihnen landen später in Bombay (Indien) im Krankenhaus, andere zieht es nach Goa (ebenfalls Indien).

17 Menschen durch ihn infiziert

Bernd K. reist nach Pakistan – und erkrankt wieder an Gelbsucht. Am 20. Dezember 1969 kommt er deswegen ins „Civil Hospital“ in Karachi. Er wird in Abteilung III, Bett 22, untergebracht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO ermittelt danach, dass zu dieser Zeit dort keine Pockenkranken behandelt wurden. Gegen ärztlichen Rat verlässt K. am 28. Dezember das Krankenhaus, die Gelbsucht ist nicht ausgeheilt. Wo K. danach bleibt, ist nicht restlos zu klären.

Auch interessant

Ihm fehlt sogar das Geld für billige Absteigen. Er muss drei Tage auf der Straße in Slums verbracht haben. Die WHO ermittelt: Dort grassieren in jenen Tagen die Pocken. Hier muss sich Bernd K. angesteckt haben. Am 30. Dezember gewährt ihm die deutsche Botschaft in Karachi ein Darlehen für den Rückflug nach Deutschland. Sein Vater und sein Bruder holen ihn in Düsseldorf am Flughafen ab, fahren mit ihm mit der Bahn nach Meschede. Sein Vater arbeitet als Hausmeister in Meschede im Schlachthof.

Der Verdacht verdichtet sich

Auch interessant

Das Drama in Meschede beginnt. K. lebt im Dachgeschoss bei den Eltern. K. wird krank, seine Symptome werden erst mit der Gelbsucht, dann mit einer infektiösen Darmerkrankung erklärt. Seine Temperatur steigt auf 40 Grad. Am 10. Januar 1970 wird er um 11 Uhr in die Isolierstation des St.-Walburga-Krankenhauses gebracht. Am Abend des 14. Januar verdichtet sich erstmals der Pockenverdacht: Aus dem Inhalt der Bläschen kann das Pockenvirus gezüchtet werden.

Gegen 12 Uhr am 15. Januar wird das Gesundheitsamt des Kreises vom Krankenhaus über den Pockenverdacht informiert. Jetzt tritt der „Pockenalarmplan“ in Kraft - mit der Verhängung von Quarantänen, Warnungen, Impfungen, Einrichtung der Pockenbehandlungsstelle in Wimbern. K. kommt am 16. Januar nach Wimbern. 20 Menschen hatten mit K. außerhalb des Krankenhauses Kontakt: Sechs aus einer Mescheder Arztpraxis, vier, die er auf der Straße angesprochen hat, ein Taxifahrer, der Krankenwagenfahrer, ein Apotheker, die Eltern, die drei jüngeren Geschwister, seine Freundin aus Arnsberg, der Hausarzt. Sie alle erkranken nicht.

Nichts Strafbares

Auch interessant

Nachher lässt sich feststellen: Durch K. als Ersterkranktem werden 17 Menschen infiziert – während seines Krankenhausaufenthaltes. In keinem Fall geschieht dies aber unmittelbar durch den Kontakt mit K., sondern in allen Fällen als Folge der Virus-Ausbreitung durch die Luft innerhalb des Gebäudes.

Bernd K. übersteht die Pocken. Angeblich wollte er danach selbst Krankenpfleger werden, um anderen zu helfen. Geprüft wird, ob er sich strafrechtlich verantworten muss - wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge. Es kommt nicht dazu: Nach dem Bundesseuchengesetz wäre nur eine vorsätzliche Ansteckung strafbar. Vorsatz kann man K. nicht vorwerfen. Seine Familie erhält Droh- und Hassbriefe. Der Vater gibt die Stelle im Schlachthof auf, die Familie zieht aus Meschede fort. Die Spuren von Bernd K. verlieren sich – mal wird gesagt, er habe danach in Hamburg gelebt, mal soll er in Berlin gelebt haben. Fest steht: Im Hochsauerland ist er nicht mehr gemeldet.