Meschede. Ein Mann wird mit hohem Fieber ins Krankenhaus gebracht. Er ist an Pocken erkrankt. Meschede wird vor 50 Jahren eine Stadt im Ausnahmezustand.
Der 16. Januar 1970 ist ein trüber Tag. Ein bedeckter Himmel. Schneeregen platscht auf das Sauerland. Für die Menschen in Meschede, die morgens ihre Zeitung aus dem Briefkasten ziehen, beginnt jener Tag mit einer kleinen Meldung, die in einer großen Aufregung münden wird. „Verdacht auf Pocken“ titelt die Westfalenpost auf ihrer Sauerland-Seite. Pocken, das bedeutet, wie sich bald herausstellt: Tod und Trauer sowie Wut und Wirtschaftseinbußen. Zugleich rücken Menschen zusammen, Betroffene finden neue Freunde und sogar Ehepartner. 50 Jahre sind seitdem vergangen - in einer Serie arbeiten wir das Geschehen auf.
Die Meldung steht oben links auf der Seite, sie erscheint komplett fettgedruckt: „Nach Mitteilung des Gesundheitsamtes können dem St.-Walburga-Krankenhaus keine stationären und ambulanten Behandlungsfälle zugewiesen werden. Nach uns vorliegenden Informationen ist ein Patient mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an Pocken erkrankt. Zwei Fach-Professoren sollen bereits hinzugezogen sein.“ Abends, kurz vor Druckbeginn, war dieser Text noch in die Zeitung gebracht worden. Der zuständige Redakteur hatte gegen die Zeit gekämpft - und er wusste, welche Tragweite der Inhalt hatte.
Feuerwehrleute in Schutzanzügen
Ein Tag später - die Schlagzeile auf der Titelseite: „20jähriger aus Meschede streng isoliert: Pocken aus Pakistan“. Zu sehen sind Feuerwehrleute in Schutzanzügen. Sie sehen aus, als hätten sie sich in Plastikplanen gehüllt. Sie tragen Mundschutz. Die Bilder zeigen: Auf einer Trage wird der Patient in einen speziellen Krankenwagen geschoben. Dann wird er in die Pockenbehandlungs- und Isolierstation nach Wimbern gebracht. Der Transport verläuft ohne Zwischenfälle. Der Erkrankte ist aus Meschede weg - die Pocken, das stellt sich später heraus, bleiben...
Schon einen Tag nach Bekanntwerden des Pocken-Infektion ist nahezu alles über den Erkrankten bekannt: Bernd K., Sohn einer Familie aus Meschede, 20 Jahre alt. Er hat in Bochum eine Lehre zum Elektriker absolviert und sich dort einer Kommune angeschlossen, „zu der er über zwei Studenten, die aus Meschede stammen, Kontakt bekommen hatte“, heißt es im Bericht dieser Zeitung. Kommunen galten als politisch motivierte Wohngemeinschaften in Zeiten der Studentenbewegung.
Mit dem Kleinbus aufgebrochen
In dem damaligen Artikel heißt es im Original: „Acht Mitglieder, der Bochumer Kommune, die von ideologischen Vorstellungen sehr schnell weg, dafür aber mit Rauschgift in Berührung kamen, fuhren, wie das Innenministerium bestätigte, mit einem Kleinbus über Jugoslawien und die Türkei nach Westpakistan, um dort zu gammeln und Haschisch zu rauchen.“ Unterwegs habe sich die Gruppe getrennt. „Briefe an die Angehörigen zeigen, welch menschliche Tragödie sich unterwegs abspielte. Die Gruppe kam auf ihrer Orientreise gesundheitlich völlig herunter und vegetierte zwischen Verzweiflung und Hasch-Trips.“
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Bernd K. hatte sich in Karatschi in Pakistan aufgehalten. Er war an Gelbsucht erkrankt, war dort bis zum 28. Dezember 1969 im Krankenhaus behandelt worden, einen Tag vor Silvester nach Düsseldorf geflogen und dort von seinem Vater und seinem Bruder abgeholt worden. Die Mediziner sind überzeugt: Bernd K. muss sich in Karatschi mit Pocken infiziert haben.
480 Patienten gefährdet
Am 9. Januar 1970 bekommt er hohes Fieber. Am 10. Januar 1970 wird er ins St.-Walburga-Krankenhaus eingeliefert. Mehrere Tage vergehen. Am 14. Januar der Verdacht: Pocken. 480 Patienten sind gefährdet - das Krankenhaus ist wegen einer Grippewelle voll belegt.
Eine Woche lang seit Bekanntwerden der Infektion bleibt es weitgehend ruhig in Meschede. Kontaktpersonen kommen in Quarantäne. Bewohner können sich vorsorglich impfen lassen. „Keine neuen Fälle“, titelt die Westfalenpost. Dann erscheint die Ausgabe vom Dienstag, 27. Januar. Wieder steht die Meldung oben links. Wieder ist alles fettgedruckt. „Verdacht auf Pocken“ - „ein weiterer ernst zunehmender Verdacht hat sich in den gestrigen Abendstunden ergeben“. Ein fünfjähriges Mädchen, die Tochter eines griechischen Gastarbeiters.
Erste Erkrankte stirbt
Danach geht es Schlag auf Schlag: Eine Schwesternvorschülerin gilt als erkrankt. Es gibt neue Verdachtsfälle. Es werden weitere Impfungen angeboten. Polizeibeamte stehen vor der Isolierstation. Veranstaltungssperren werden vorbereitet. Eine erste Erkrankte stirbt. Meschede wird eine Stadt im Ausnahmezustand.