Meschede. .
Früher, da hätte Marcus Tiedt wahrscheinlich die Handbremse gezogen, bis sein Auto quer stand und wäre auf den Drängler mit dem „Baseball-Schläger“ los. „Heute fahre ich rechts ran, lasse ihn vorbei und winke hinterher“, sagt der Mescheder. Früher, das war vor seinem Zusammenbruch und vor der Diagnose „Borderline“. Und auch vor den regelmäßigen Treffen in der Selbsthilfegruppe, die jetzt ihr fünfjähriges Bestehen feiert.
Zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter dem Borderline-Syndrom – Frauen häufiger als Männer. Alle haben in Kindheit und Jugend Grenzüberschreitungen oder emotionale Vernachlässigung erlebt. Schrecken und Zurücksetzungen wirken Jahrzehnte nach, machen sich Luft in Aggressionen, in Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Drogen- und Alkoholsucht bis zum Suizid. „Es gibt 1000 Arten sich selbst zu verletzen“, sagt Ute Avanes - „von der Aussage: ,Ich bin dumm und nichts wert’ bis zum Schlucken von Rasierklingen.“
Doch auch, wenn Erziehung und Veranlagung die Borderline-Grundlage legen: „Letztlich sind wir für unser Leben selbst verantwortlich“, betonen Ute Avanes, Marcus Tiedt, Rolf Klauke und Susanne Blume. Die vier kommen aus Meschede, Freienohl und Wennigloh, sie wollen aufklären über eine Erkrankung, die man in den Griff bekommen kann und Werbung dafür machen, wie heilsam die Treffen in der Selbsthilfegruppe sind, wenn man einmal erkannt hat, dass man selbst etwas tun kann.
Eine Erlösung
„Wichtig ist erstmal die korrekte Diagnose“, sagt Rolf Klauke, der die Selbsthilfegruppen gründete. Die könne beispielsweise ein Therapeut mit Schwerpunkt Persönlichkeitsstörung stellen. Er selbst erhielt sie in der LWL-Klinik in Warstein. „Es war eine Erlösung“, sagt er. „Endlich verstand mich jemand.“ Verstand, wie die negativen Gedanken in seinem Kopf kreisten, nicht zum Stillstand zu bringen waren, bis sie ihn wortwörtlich explodieren ließen. Eine Verhaltenstherapie gab ihm die Hilfsmittel an die Hand, mit denen er sein Leben wieder selbst steuern konnte.
Auch in der Gruppe kommen sie zur Sprache: vor allem Achtsamkeit und Stresstoleranz und das Erkennen von Verhaltensmustern. „Man merkt schnell, wie jeder Einzelne drauf ist“, berichtet Klauke, und jeder kann erzählen, muss aber nicht. Dabei gibt es Tabus, die Einzelne festlegen, weil sie sie „triggern“, das heißt alte Erfahrungen und negative Gedanken wieder hochholen. Das kann der Schlag auf den Tisch sein, wie es der Vater immer tat oder einzelne Worte.
Festgelegte Tabus
Und es gibt Tabus, die die Gruppe festlegt. „Selbstverletzendes Verhalten ist eines“, sagt Ute Avanes, „Wenn es passiert ist, kann man darüber reden, warum er meinte, Druck ablassen zu müssen. Die Handlung an sich wird aber nicht besprochen.“ Sie soll keine Aufmerksamkeit bekommen.
Mittlerweile ist die Gruppe nicht nur bei den Gruppenstunden zusammengewachsen, auch privat treffen sich die Teilnehmer. Zweimal im Jahr gibt es Fachvorträge. 21 Teilnehmer sind gemeldet, 10 bis 12 sind meistens da. Sie kommen aus dem Hochsauerlandkreises, aus dem Märkischen Kreis, aus Soest und Gelsenkirchen. Sie wissen oft schon seit der Pubertät, dass sie anders sind. „Alles, was ein Borderliner erfährt, bezieht er im negativen Sinn auf sich“, erläutert Klauke. „Wo ein anderer vielleicht erst mal das Gespräch suchen würde, denken wir an Reifen abstechen oder Scheiben einschlagen.“ Auch solche Gedanken kann die Gruppe geraderücken. „Es gibt aber keine Vorwürfe und Wertungen. Wir bleiben in der Ich-Form“, betont Ute Avanes. Schließlich wolle man sich ja gegenseitig helfen.
Das wird um so dringender, als es im HSK an Therapeuten fehlt. Früher da war Therapieerfahrung Voraussetzung, um in der Gruppe aufgenommen zu werden. Klauke: „Heute wartet man bis zu anderthalb Jahre auf einen Therapieplatz.“