Menden. .

Das mit dem „drolligen Kerl“ war natürlich ein gefundenes Fressen für gewisse bundesdeutsche Magazine und Zeitungen, die ihm sowieso ans Leder und nur zu gern der Lächerlichkeit preisgeben wollten. Weil er mit ihnen und sie mit ihm nicht gut konnten. Der „drollige Kerl“ war niemand geringerer als Heinrich Lübke, der am 1. Juli 1959 zum Bundespräsidenten und damit zum Nachfolger von Theodor Heuss gewählt wurde. Am 13. September begann seine Amtszeit. Nur wenige Tage nach seiner Wahl erschien im Lokalteil der Mendener Westfalenpost ein Bericht unter dem Titel: „Wer hätte das gedacht - Heinrich wird nun Präsident“. Daran gedacht hatte zumindest im Jahr 1913 niemand in Menden, schon gar nicht Heinrich Lübke selbst und auch nicht seine entfernten Verwandten Josef und Alwine Wortmann von der Kaiserstraße 27, bei denen er für ein Jahr Kost und Logis bekommen hatte. Ja, Heinrich Lübke, der spätere Bundespräsident, hat ein Jahr in Menden gewohnt und gearbeitet.

Acht Wohnungen und nur zwei Toiletten im Haus

Alwine Wortmann geb. Piekhardt aus Menden war schon 76, als sie im Juli 1959 für die WP Menden bereitwillig und voller Freude über „Heinrich“ berichtete. Ihr Mann Josef, der Schneidermeister, geboren 1880, war bereits 1955 gestorben. Er stammte aus Langscheid. Die beiden hatten acht Kinder. Im Erdgeschoss des Hauses Kaiserstraße 27 gab es ein Lebensmittel-Geschäft, das Alwine betrieb, später zusammen mit Tochter Regina. Das übrige Haus hatte acht Wohnungen, wobei die Bezeichnung „Wohnung“ aus heutiger Sicht wenig zutrifft. Es handelte sich um Einheiten von jeweils zwei Zimmern – Wohn- und Schlafzimmer -- zu denen im gesamten Haus insgesamt zwei Toiletten gehörten. Zimmer und Toiletten alle erreichbar über die Flure der verschiedenen Etagen. Damals, im Jahr 1913, waren die Ansprüche geringer.

Wer heute nach dem Lebensmittelgeschäft von Alwine Wortmann (1883-1961) von damals sucht, sucht vergebens. Haus und Fassade sind umgebaut. Heute befindet sich im Erdgeschoss die Praxis von Kinderarzt Dr. Dücker. Ohne Schaufenster. Gleich nebenan das Café Echt, Kaiserstraße 29.

Praktikumsjahr als Landvermesserfür das Studium benötigt

Was verschlug den jungen Abiturienten Heinrich Lübke (1894-1972) nach Menden? 1913 hatte er als 19-Jähriger sein Abitur am Gymnasium Petrinum in Brilon abgelegt. Damals war es üblich, dass frisch gebackene Abiturienten ihr Berufsziel angaben. Das war bis in die 1960er Jahre so. Heinrich Lübke sprach davon, sich dem Bankfach widmen zu wollen. Doch herauskam etwas gänzlich anderes. Heinrich Lübke wollte Landmesser und Kulturbauingenieur werden. Dafür brauchte er ein einjähriges Praktikum als „Landmesser-Eleve“. Dieses Praktikum trat er am 1. April 1913 beim Stadtvermessungsamt Menden an und blieb bis zum 1.4.1914. Zuständig für ihn war anfangs Landmesser Holzapfel.

Zwischen Hönne und Ruhr täglich unterwegs

In diesem einen Jahr in Menden wohnte er als Untermieter bei den Wortmanns, die mit seiner Familie in Enkhausen entfernt verwandt waren. Die Wortmanns und Heinrich Lübke hatten sich nach dem Praktikumsjahr zwar wieder aus den Augen verloren -- zumindest Lübke seine Vermieter. Heinrich Lübke hat in seinen Lebensschilderungen das Jahr in Menden auch so gut wie nie erwähnt.

Anders bei Alwine und ihrem Mann Josef bis zu dessen Tod 1955. Sie hatten den Werdegang ihres einstigen Schützlings, der hinauszog nach Berlin, um was zu werden, aufmerksam verfolgt. Als die WP im Juli 1959 anklopfte, fand sie Alwine Wortmann an der Kaiserstraße 27 nicht vor. Sie war für einen kleinen Genesungsurlaub einige Tage an die Bachstraße zu den Schöndorfs gezogen zu einer ihrer Tochter. Aber für Heinrich unterbrach sie den „Urlaub“ und erzählte von dem jungen Mann, der mit 19 Jahren zu ihr kam und inzwischen aufgestiegen war zum Bundesminister für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten und der in Kürze Nachfolger des beliebten Bundespräsidenten Theodor Heuss werden sollte.

Alwine Wortmann erinnerte sich im Juli 1959 noch genau, dass Heinrich Lübke in dem einen Jahr, das er in der Hönnestadt verbrachte, fast täglich mit Landmesser Kernder, dem Nachfolger Holzapfels, hinauszog in das Gelände zwischen Hönne und Ruhr, wo man gerade um jene Zeit mit Vermessungsarbeiten beschäftigt war.

Ein Sofa im Wohnraumund viel zu schreiben

Bei den Wortmanns bewohnte er ein Wohn- und ein Schlafzimmer, in denen er sich, so betonte Alwine Wortmann, recht wohl gefühlt habe. Die Einrichtung war einfach und den damaligen Verhältnissen entsprechend. Ein Sofa im Wohnraum sorgte für einen gemütlichen Rahmen und dafür, so die WP damals, dass Heinrich Lübke „während seiner wenigen Freistunden ein wenig ausruhen konnte“. Chronistin Gisela Orlowski vermutete gar, es könnte in diesem Wohnzimmer auch einen Schreibtisch gegeben haben. Alwine Wortmann mit ihren ja schon 76 Jahren erinnerte sich da nicht mehr so genau, sagte aber auch: „Er hatte immer so viel zu schreiben“.

Alwine Wortmann: „Ein drolliger Kerl und soo einfach“

Es ist amüsant, die Schilderungen von Alwine Wortmann im WP-Bericht zu lesen. Darin heißt es u.a.: „Ja, wer hätte das gedacht. Die alte Frau, die vor fast einem halben Jahrhundert dem Sohn der Schuhmacherfamilie aus Enkhausen täglich frühmorgens den dampfenden Kaffee servierte, schlägt vor Freude die schon ein wenig faltig gewordenen Hände ineinander und schüttelt – während ein Leuchten auf ihrem Gesicht steht – ein wenig den Kopf. „Unser Heinrich – nun wird er Bundespräsident…“ Alwine Wortmann kramt jetzt in ihren Erinnerungen: „Meine acht Kinder nannten ihn ja immer Onkel Heinrich, und er konnte so gut mit den Kindern umgehen. Unsere Helma, die hat er immer so nett veräppelt, der hat er immer gesagt, sie könne die Zunge wohl dreimal um den Hals schlagen…“ Die alte Frau lächelte, als sie hinzufügte: Und er war immer so ein drolliger Kerl und soo einfach!“

Heinrich Lübke verlor sein erstes Eleven-Zeugnis

Alwine hat Heinrich Lübke wohl nie wiedergesehen, auch nicht zwischendurch, wenn sie mit den Kindern nach Enkhausen fuhr zu ihrer Schwägerin, einer Schwester Heinrich Lübkes. Eine schriftlich bekannte Spur hat Heinrich Lübke in Menden auch nur an einer einzigen Stelle hinterlassen. Norbert Klauke vom Stadtarchiv hatte sie parat. In einem Schreiben, das Lübke 1921 aus Berlin ans Mendener Rathaus schickte, erbat und erhielt der stud. Geod. etc Lübke aus Berlin, Schönestedtstraße 1, vom Stadtvermessungsamt Menden eine von ihm erbetene Bescheinigung – da ihm das damals erhaltene Eleven-Zeugnis abhanden gekommen war.

Erstaunen über Bettelbrief an den Bundespräsidenten

Nachfahren der Familie Schöndorf von der Bachstraße, bei denen Alwine Wortmann sich einige Tage erholte, leben heute in der Straße Zum Mühlenteich 9. Günter und Margarete Schöndorf hatten auch noch Bilder vom Lebensmittelladen und von Oma Alwine und Opa Josef Wortmann und haben sie mir zur Verfügung gestellt. Sie kannten die Geschichten um Heinrich Lübke, waren aber doch erstaunt, dass es 1962 den Bettelbrief eines Angehörigen der Mendener Familie an den Bundespräsidenten Heinrich Lübke gegeben hat mitsamt dem Hinweis auf dessen Zeit als Untermieter in Menden. Über den Inhalt dieses Bettelbriefes und wer ihn warum geschrieben hat, konnte ich bisher nichts erfahren. Helfen konnte mir auch nicht der Lübke-Kenner, Ortsheimatpfleger und Ortsvorsteher von Enkhausen, Gerhard Hafner. „Heinrich Lübke war aber immer so sozial eingestellt, dass man davon ausgehen darf, dass er geholfen hat“, vermutet Hafner. Er wohnt – das ist wie ein i-Tüpfelchen oben drauf – in der Heinrich-Lübke-Straße. Bis zur Pensionierung war er Polizeibeamter in Iserlohn.

Nach dem Tod von Alwine Wortmann im Jahre 1961 wurde das Haus samt Lebensmittelladen verkauft. Acht Kinder wollten etwas vom Erbe haben. Neuer Eigentümer wurde Heinrich Hans von der Metzgerei Hans. Heute gehört es Gabriele Schweitzer geb. Hans.

Die Erinnerung an Lübke wird hoch gehalten

In Enkhausen wird die Erinnerung an den größten Sohn der Gemeinde hoch gehalten. Ganz offiziell und mit Hilfe der Stadt Sundern. So gibt es seit 1975 auf Anregung von Wilhelmine Lübke die Heinrich-Lübke-Gedächtnisstätte in Enkhausen in der ehemaligen Volksschule zu Enkhausen. Öffnungszeiten und Führungen nach telefonischer Terminvereinbarung bei Uta Koch vom Amt für Schulverwaltung, Sport und Kultur der Stadt Sundern, unter 02933-81-169 oder e-Mail: u.koch@stadt-sundern.de#

Ein Teil des Nachlasses wird auch von einem Großneffen Heinrich Lübkes auf der Moselburg Arras gezeigt. Auch im dortigen „Heinrich- und Wilhelmine-Lübke-Gedenkzimmer“ können Besucher Fotos, Unterlagen und Gastgeschenke besichtigen.

Einige Medien trieben mieses Spiel um Lübke-Englisch

Heinrich Lübke war Bundespräsident von 1959 bis 1969. In diesen Jahren offenbarten sich seine rhetorischen Schwächen. Genüsslich wurde das Mendener WP-Interview mit Alwine Wortmann bundesweit ausgewalzt. Oma Alwines Spruch „So ein drolliger Kerl war unser Heinrich und immer so einfach“ passte und gefiel gewissen Zeitungsleuten, die hernach nicht davor zurückschreckten, Wortwendungen zu erfinden und ihm in den Mund zu legen. Sie waren später zwar nicht zu belegen, schwirren aber bis heute durch die Zeitgeschichte wie das „Equal goes it loose“ für „Gleich geht es los“. Lübke-Englisch, sagte man dazu.

Heute ist bekannt, dass Heinrich Lübke unter einer fortschreitenden Zerebralsklerose litt, die zu ernsthaften Sprechstörungen und zeitweise auftretendem Gedächtnisverlust führte. Im Nachhinein zeigte sich, so heißt es bei Wikipedia, dass diese Krankheit schon einige Jahre zuvor begonnen hatte und so manchen Versprecher des Bundespräsidenten in den letzten Jahren seiner Amtszeit erklärte.