Menden. .
Immer wieder erklären Eltern geduldig ihrem Schulanfänger die vermeintlich leichte Matheaufgabe – doch vergeblich. Es bleibt nichts hängen, das Kind kann die Erklärung nicht umsetzen. Nicht nur das Kind ist überfordert, auch die Eltern und bisweilen auch die Lehrer. Doch bis die Diagnose Dyskalkulie gestellt wird, hat das Kind mitunter einen langen Leidensweg hinter sich. Wir haben über das Thema Dyskalkulie mit Seyedeh Marjam Majd gesprochen. Die 38-jährige Bösperderin arbeitet als Dyskalkulie-Trainerin.
Frage: Wie wird man Dyskalkulie-Trainerin?
Seyedeh Marjam Majd: Ich gebe Nachhilfe für Kinder und habe da irgendwann einen Punkt erreicht, an dem ich bei einigen Kindern einfach nicht mehr weitergekommen bin. Da war ich schlicht mit meinem Latein am Ende. Ich habe dann beim Ersten Österreichischen Dachverband Legasthenie (EÖDL) eine Ausbildung zur diplomierten Dyskalkulie-Trainerin gemacht. Dabei habe ich gelernt, wie man speziell Kinder mit Dyskalkulie fördern kann.
Wie stellt man fest, ob ein Kind Dyskalkulie hat?
Zunächst einmal sind es oft die Eltern, denen das auffällt. Kinder meiden dann meist alles, was mit Rechnen zu tun hat, also beispielsweise das Spielen mit dem Kaufladen. Auch zeigt das Kind kein Interesse an Zahlensymbolen. In der Schule kommen die Kinder dann irgendwann überhaupt nicht mehr mit. Anfangs können sie noch viel mit den Fingern abzählen, aber spätestens ab dem 3. Schuljahr geht das nicht mehr. Wenn Eltern mit ihrem Kind Hilfe suchen, gibt es spezielle Testverfahren – zum Beispiel den AFS-Test –, mit dem man Dyskalkulie feststellen kann.
Was wird in dem Test untersucht?
Es sind drei Bereiche: Aufmerksamkeit, Sinneswahrnehmung und wie weit ein Kind zählen und rechnen kann.
Wenn bei einem Kind Dyskalkulie festgestellt wurde, was kann dann getan werden, um das Kind zu fördern?
Zunächst ist es wichtig, die Kinder zu motivieren. Als nächstes geht es dann darum, die Sinneswahrnehmung der Kinder zu fördern.
Wie genau funktioniert das?
Wenn ich auf den Tisch fünf Äpfel lege und davon drei wegnehme, würde jedes Schulkind sagen, dass noch zwei Äpfel übrig sind. Ein Kind mit Dyskalkulie aber kann das nicht, sondern muss diese beiden Äpfel wirklich zählen. Dadurch, dass ich beispielsweise mit Kichererbsen oder auch mit einem Abakus mit Kugeln arbeite, bekommt das Kind erst mal ein Gefühl für Zahlen und was eine Zahl bedeutet. Darauf kann man dann aufbauen. Wichtig ist auch, dem Kind klarzumachen, dass es keine Krankheit hat. Das Kind macht keine Therapie, sondern ein Training.
Wo liegen die Ursachen für Dyskalkulie?
Dyskalkulie ist genetisch bedingt, das ist mittlerweile erwiesen. Man muss Dyskalkulie unterscheiden von einer Rechenschwäche. Eine Rechenschwäche ist vorübergehend – zum Beispiel durch einen Schulwechsel oder durch Stress –, Dyskalkulie ist es nicht.
Das heißt, eine Dyskalkulie wächst sich nicht irgendwann von selbst aus?
Nein, die Dyskalkulie bleibt, aber die Rechenschwierigkeiten können durch Training verbessert werden. Jemand, der Dyskalkulie hat, wird immer etwas langsamer beim Rechnen sein. Ich arbeite zum Beispiel mit einem Kind, dessen Vater ebenfalls Dyskalkulie hat und der entsprechend sensibilisiert war. Und ich trainiere mit einer Mutter, die Dyskalkulie hat. Deren Kind kommt bald in die Schule, und das hat sie als Zeitpunkt genommen, an ihrer Dyskalkulie zu arbeiten, um dem Kind in der Schule helfen zu können.
In den vergangenen Jahren ist Dyskalkulie immer bekannter geworden. Sind Lehrer entsprechend sensibilisiert?
Manche sind es, andere überhaupt nicht. Ich muss aber klar sagen, dass Lehrer im normalen Unterricht überhaupt nicht die Zeit haben, auf Kinder mit Dyskalkulie ausführlich einzugehen. Schlimm ist, wie sehr sich die betroffenen Kinder quälen und wie stark sie leiden. Manche werden von Eltern, Mitschülern oder Lehrern schlichtweg für dumm gehalten, anderen machen den Klassenclown.
Das heißt, diese Kinder fallen dann durchs Raster?
Damit das nicht passiert, ist es wichtig, mit dem Kind so früh wie möglich zu trainieren. Je eher man anfängt, desto besser. Ich habe hier beispielsweise einen Jugendlichen, der in der Oberstufe eines Gymnasiums ist und das Abitur machen wird. Das ist auch mit Dyskalkulie möglich – wenn auch sicher nicht mit Mathematik als Leistungskurs.