Menden.

Er ist 87 Jahre alt und der letzte Überlebende des Holocaust im gesamten Märkischen Kreis: Carl-Heinz „Charly“ Kipper, Sohn eines Katholiken und einer Jüdin aus Iserlohn. Gestern hielt er im Rahmen eines Projekttages gegen Rassismus einen Vortrag vor Schülerinnen und Schülern des Placida-Viel-Berufskollegs. Der Tag war passend gewählt, denn heute jährt sich die Reichspogromnacht, in der an die 180 Synagogen und unzählige jüdische Geschäfte in ganz Deutschland zerstört wurden, zum 75. Mal.

Carl-Heinz Kipper ist acht Jahre alt, als ihn die Antisemitismus-Gesetze der Nazis mit voller Wucht treffen. Er ist der Klassenprimus in der Volksschule und hat viele Freunde. Von heute auf morgen wenden sich seine Freunde plötzlich gegen ihn. „Unsere Eltern haben uns verboten, mit dir zu spielen. Du bist Jude und mit Juden wollen wir nichts zu tun haben“, sagen sie ihm. Auf einmal wird Carl-Heinz Kipper als „Judenschwein“ und „Saujude“ beschimpft, seine früheren Freunde beginnen, ihn zu verprügeln.

Mutter Helene nimmt ihn zur Seite und erklärt ihm, dass der Sohn aufgrund ihrer Religion zum Außenseiter geworden ist. Sie erzählt ihm, dass Reichskanzler Adolf Hitler gegen die Juden in Deutschland ins Feld zieht. „Aber der ist bald wieder weg, der bleibt nicht lange“, war seine Mutter sich sicher. „Das war der größte Irrtum ihres Lebens“, sagt Carl-Heinz Kipper traurig.

Als „Volljüdin“ wird Mutter Helene Kipper 1943 verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Carl-Heinz und seine Schwester kommen bei einer Tante des Vaters unter. Als Näherin ist Helene Kipper den Nazis nützlich. Beim Anlernen einer weiteren Näherin fällt ihr eine alte Frau in der Baracke auf. „Als meine Mutter sie fragen wollte, ob sie etwas für sie tun könne, erkannte sie die Frau. Es war ihre eigene Mutter, also meine Großmutter, die mit 88 Jahren noch deportiert worden ist“, erzählt Carl-Heinz Kipper. Als seine Mutter mit Hilfe eines tschechischen Soldaten einen Brief an ihre Familie schmuggeln will, fliegen beide auf. Der Soldat wird sofort standrechtlich erschossen, Helene wird in ein Kellerverlies gesperrt. „Das hat ihr am Ende das Leben gerettet, denn die Nazis haben sie schlichtweg vergessen, als sie einige Tage später mit der Räumung des Ghettos begannen“. Von knapp 60.000 internierten Juden waren bei der Befreiung Theresienstadts nicht einmal mehr 6000 übrig.

Auch Carl-Heinz Kipper selbst kommt als Halbjude in ein Internierungslager bei Fulda, wo er in einem Salzbergwerk arbeiten muss. Eines Tages rufen die Aufseher alle Arbeiter nach oben, weil die letzten „echten Juden“ vernichtet werden sollen. „Jeder musste die Hosen runter lassen, um zu zeigen, ob er beschnitten ist. Anhand der Beschneidung enttarnten die SS-Leute die Juden. Ich war der vierte in der Reihe. Als sie beim Dritten waren, wurde Fliegeralarm ausgelöst und die SS-Leute rannten weg. Zwei Minuten später und ich würde heute nicht hier sitzen. Das war das zweite große Wunder in unserer Familie“, sagt Kipper und ihm versagt abermals die Stimme.

Im Mai 1945 wird er endlich wieder mit seiner Mutter vereint. Obwohl sie eigentlich nicht will, kann Carl-Heinz Kipper sie überzeugen, in Deutschland zu bleiben. Diese Entscheidung hat Kipper selbst nie bereut. „13 Jahre unseres Lebens waren die Hölle“, sagt Kipper, aber der Rest war ganz gut. Indem er viele Vorträge hält, kann er das Erlebte verarbeiten.

Die Schülerinnen und Schüler hörten gebannt zu und stellten nach dem Vortrag viele Fragen.