Menden. .

Pure Verzweiflung. Nicht mehr in der Lage sein, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie sonst hätte Mutter Erna Schwär ihren 13 Jahre alten Sohn drängen können, die Ruhr schwimmend zu durchqueren, um so doch noch ans andere Ufer zu gelangen und zu gucken, ob der Vater noch lebte?

Herbert Schwär, heute 83 Jahre alt, hat diese Nacht, als der Damm der Möhne-Talsperre zerbarst, nicht vergessen. „Du kannst doch gut schwimmen“, hatte sie ihm gesagt. Doch der Junge wehrte sich. „Mutter, das Wasser hat schon die Brücke überspült. Das geht nicht mehr.“ Im Sommer, ja, bei normalem Wasserstand, da hatte er die Ruhr oft schwimmend durchquert. Aber jetzt war das unmöglich.

Vom Wasser eingeschlossen

Die Familie Schwär wohnte an der Landwehr. Das Wasser stand in jener Nacht am 17. Mai 1943 schon bis Bösperde. Der Vater war jenseits der Ruhr in Fröndenberg bei den Stadtwerken im Werk zur Stromerzeugung beschäftigt. Dazu gehörte auch die Betreuung der Anlage in Wickede an der Ruhr. Dort hatte er diesmal Nachtschicht. Da kam das Wasser der Möhne mit Macht. Die Turbinen mussten abgeschaltet werden. Vater Herbert Schwär rettete sich danach noch aufs Dach des Werkes. Sein Kollege ebenfalls, wollte aber noch einmal die Leiter heruntersteigen und nachschauen, ob die Turbinen auch wirklich still standen. Da brach die Flutwelle herein, riss die Leiter weg. Der Kollege ertrank. Vater Herbert Schwär saß hilflos weiter auf dem Dach, eingeschlossen von den Fluten. Als das Wasser etwas gefallen war, wurde er am Morgen mit einem Boot aus seiner Notlage befreit und nach Fröndenberg gebracht.

Zwei Tage nichts vom Vater gehört

Telefonisch konnte er seine Familie nicht benachrichtigen, alle Telefonleitungen waren tot. Mutter und Sohn saßen zu Hause, hatten zwei Tage nichts mehr von ihm gehört, wussten nicht, ob er noch lebte oder umgekommen war. Panik bei der Mutter. Als der Vater dann zu Fuß nach Hause kam, flossen die Tränen der Erleichterung. „Vater hat später noch oft von dieser Nacht gesprochen“, erzählte mir sein Sohn, dem das Drama in Halingen um die Familie Küster (s.„So war es früher“ vom 11.5.13) die eigenen schrecklichen Stunden vom 17. Mai 1943, vor 70 Jahren, plötzlich wieder lebhaft vor Augen führte.

Opfer auch auf Mendener Friedhof

Er ist für mich einer der wirklich ernst zu nehmenden Heimatforscher von Menden. Franz Rose ist heute 84 Jahre alt. Als er mich einlud, mich noch weiter über die Möhne-Katastrophe zu informieren, wusste ich nicht, was auf mich zukam. Bändeweise Vergangenes von Menden, Fotos, Fachwissen: „Kennen Sie das…?“ fragte er. Natürlich kannte ich es nicht. Wie auch, ich bin kein Heimatforscher. Ich lese nur nach, höre zu, kleide es in eine journalistische Form.

Ist schon blamabel für mich, dass ich erst seit meinem Besuch bei ihm weiß, dass auch auf dem katholischen Friedhof in Menden eine ganze Reihe von Möhne-Opfern bestattet liegt. Franz Rose hat das alles schon vor Jahrzehnten für die Nachwelt niedergeschrieben. „Wer von der Josefschule aus den Mittelweg des katholischen Friedhofs hinaufgeht, wird gleich zu Beginn der ersten Gräberreihen auf der rechten Seite den Gedenkstein sehen, der an die dort ruhenden Opfer der Möhne-Katastrophe erinnert.“

Tags zuvor an der Möhne

Franz Rose hat als 14-Jähriger die Maientage 1943 erlebt. „Mit einer Gruppe von Schülern und Jugendlichen waren wir mittags (16. Mai) mit dem Fahrrad zur Möhne gefahren. In der ehemaligen Klosterkirche Himmelpforten, damals die Pfarrkirche von Niedersense, nahmen wir am Sonntags-Gottesdienst teil. Keiner ahnte, dass dieses schöne Gotteshaus am nächsten Tag nicht mehr stehen würde, dass viele der Gottesdienstbesucher die Nacht nicht überleben würden, dass der Pfarrer selbst zu den Opfern zählen sollte…“

Am nächsten Morgen in der Schule wurde, so Rose, zwar der tägliche Wehrmachtsbericht behandelt, von der Bombardierung der Möhne aber nichts erwähnt. Dennoch erzählten einige Schüler, deren Väter beim Neuwalzwerk arbeiteten, dass eine Flutwelle sich durch Möhne- und Ruhrtal gewälzt und Häuser, Bäume, Brücken und vor allem Tiere und sehr viele Menschen mitgerissen habe, die alle den Tod gefunden hätten. „Nachmittags fiel der angesetzte Religionsunterricht bei Vikar Beckschäfer aus, der uns bat, nach Halingen, Bösperde und Schwitten zu fahren, um den flutgeschädigten Menschen zu helfen.“

Tote Ausländer nur gezählt

Die Wassermassen hatten das Land diesseits der Ruhr (Mendener Seite) weit überschwemmt. Straßen- und Eisenbahnbrücken waren weggerissen worden. Auf den Weiden lagen tote Kühe, Pferde und allerhand anderer Unrat, beschreibt Franz Rose das Geschehen. Kein Trinkwasser mehr. Leichen, die in der Nähe von Gehöften lagen, wurden von deutschen Soldaten geborgen und fortgefahren. Deutsche Opfer, so stellte Franz Rose bitter fest, wurden beklagt, die Toten unter den Ausländern nur gezählt.

Claus-Peter Levermann ist zu diesen Themen zu erreichen unter menden@westfalenpost.de, Stichwort „So war es früher“, telefonisch unter 02373/2722.

Korrigieren Sie, ergänzen Sie, schicken Sie Bilder zu den Themen an die WP-Redaktion, Hauptstraße 12 in Menden.