Menden/Arnsberg. .

Die Festzug-Tragödie hat das Leben vieler Mendener für immer verändert. Das wurde gestern, am fünften Verhandlungstag vor dem Landgericht Arnsberg, deutlich.

Auf die Frage nach dem Warum gibt es noch keine Antwort. Arztberichte belegen, dass der Angeklagte, dem etwa zwei Stunden nach dem Unglück Blut entnommen worden war, keinen Alkohol getrunken hatte. Nachgewiesen wurde lediglich das Schmerzmittel Tramadol, das „bei mäßig starken Schmerzen therapeutisch eingenommen wird“, so das toxikologische Gutachten der Uni-Klinik Münster. Von einer beeinträchtigten Fahrtüchtigkeit sei aufgrund der geringen Menge, die im Blut des Fahrers gefunden wurde, allerdings nicht auszugehen.

Zahlreiche Menschen haben körperliche und auch seelische Wunden davongetragen, als der schwarze Mercedes am 19. Juli vergangenen Jahres in den Festzug der Hubertus-Bruderschaft raste. Walter Wölfl beispielsweise, der gestern als Nebenkläger gehört wurde, erlitt mehrere Frakturen und konnte vor Schmerzen monatelang nachts nicht durchschlafen. Dennoch sagte der 42-Jährige: „Mir ist sehr bewusst, dass ich an diesem Tag mehr Glück gehabt habe als andere.“

Heinz Sparenberg musste wegen des Unfalls sein liebstes Hobby, das Wandern, aufgeben. Höchstens einen Kilometer kann der Mendener laufen, „dann muss ich stehenbleiben oder mich hinsetzen“. Der Rentner hörte kurz vor dem Unglück „von hinten ein Brausen“. Dann sei ihm schwarz vor Augen geworden. Als er wieder aufwachte, habe er auf der Straße gelegen. „Die Zehen waren zu meinem Körper hin gedreht“, erinnerte sich der 75-Jährige. „Da habe ich im ersten Moment gedacht: Oh, der Fuß ist ab.“ Im Schockzustand habe er sich aufgesetzt, seinen Fuß genommen und in die normale Richtung gedreht. Beim Unglück erlitt er schwere Wirbelverletzungen. Ein 21 ­Quadratzentimeter großes Stück Muskelfleisch wurde ihm aus dem unteren Teil der Wade gerissen. Langwierige Behandlungen folgten. Die Schmerzen sind zum ständigen Begleiter geworden.

Zwischen Leben und Tod

Der 19-jährige Marcel Schäfer hat sich mit ganz viel Energie zurückgekämpft ins Leben. Seine Erinnerung setzt sechs Wochen vor dem Unglück aus, erklärte er: „Da hatten wir in der Schule unsere Abschlussfeier.“ Er erlitt mehrere Frakturen, eine Lungenquetschung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Nach dem Unglück lag der junge Mann sechs Wochen im Koma, schwebte zwischen Leben und Tod. Nach Monaten im Krankenhaus und in einer Tages-Reha-Einrichtung nahm er im Sommer seine Ausbildung zum Automobilkaufmann auf. Die allerdings muss er nun aufgrund der Nachwirkungen des Unfalls abbrechen.

An einen „Schlag ins Bein“ erinnerte sich Günter Lunk der beim Unglück einen doppelten Wadenbeinbruch erlitt. Der 60-jährige Werkzeugmacher lebt seither ständig mit Schmerzen. „Meine Kinder haben zu mir gesagt: Hauptsache, Du lebst“, schilderte der Mendener.

Auch Dietmar Täubrich, der im Juli 2009 eine Fleischwunde am Bein erlitt, spürt bis heute die Folgen des Unglücks. Er erlebte – anders als andere Verletzte – das komplette Unfallgeschehen, wurde nicht bewusstlos. Auf die Einschätzung des Vorsitzenden Richters Willi Erdmann, dass das „sehr günstig“ sei, erwiderte der 49-jährige Lagerarbeiter: „Ob das günstig ist, mag dahingestellt bleiben. Man hat die Erinnerung für immer.“

Hans Nowak verlor am Unglückstag seinen Sohn Thomas (40). Er erzählte, wie das Unglück das Leben seiner Familie für immer verändert hat: „Man versucht, das Geschehene zu verdrängen, aber durch die Gerichtsverhandlung kommt jetzt alles wieder hoch.“ Zu seinem Sohn – als dieser starb, war dessen Sohn vier Jahre, dessen Tochter gerade mal acht Monate alt – habe er ein enges Verhältnis gehabt.

Am Unfalltag sei er mit seinem Enkel zum Schützenplatz vorausgegangen, als er gehört habe, dass „etwas Schlimmes“ passiert sei. Er habe dann gemeinsam mit seiner Schwiegertochter nach seinem Sohn gesucht: „Ich habe zwei abgedeckte Tote gesehen, aber der Schuh meines Sohnes war nicht dabei“, so der 66-Jährige. Erst danach habe er erfahren, dass sein Sohn einer der Toten war.

Der 80-jährige Angeklagte bat gestern inständig darum, „mir zu glauben, dass das alles ohne Absicht geschehen ist“. Die Situation sei „furchtbar. Es ist so eine schwere Last, die man mit sich trägt.“