Menden. Regina Avenarius aus Menden nahm einst Kinder aus der verseuchten Gegend um Tschernobyl auf. Jetzt ist Tatjana wieder da, geflohen vor dem Krieg.
Der Ukraine-Krieg gebiert unglaubliche Episoden. Weltgeschichte brachte die Mendenerin Regina Avenarius und die kleine Tatjana vor fast drei Jahrzehnten zusammen. Weltgeschichte hat sie jetzt wieder vereint.
Die Ukraine am 26. April 1986: Als der Atomreaktor in Tschernobyl um 1.23 Uhr explodiert, schläft Tatjana in ihrem Kinderzimmer ganz in der Nähe, in Pripjat. Heute ist Pripjat eine unbetretbare, radioaktiv verseuchte Zone. Doch bis 1.23 Uhr an jenem Tag ist es ein sozialistisches Vorzeigestädtchen. Alles ist nagelneu: Häuser, Kitas, Schulen, Parks, alles gebaut und eingerichtet für die vielen Angestellten des Atomkraftwerks, zu denen auch Tatjanas Vater zählt – bis heute.
Strahlung der Kernschmelze in Tschernobyl machte Tatjana krank
Doch die heimtückische Strahlung der Kernschmelze in Reaktorblock 4 macht Pripjat fortan zur Geisterstadt und lässt das kleine Mädchen krank werden, wie so viele Menschen aus der Gegend, die der Strahlung ausgesetzt waren. Bei Tatjana ist es eine Form von Asthma. Als sich in Deutschland herumspricht, dass Tschernobyl-Kinder dringend Erholungsaufenthalte brauchen, gründet sich 1993 die „Kinderhilfe Tschernobyl“ auch in Menden. Viele Familien aus Menden, Arnsberg und Sundern nehmen fortan regelmäßig Kinder aus der Ukraine auf.
Zehn Mal dürfen die Kinder aus der Ukraine zur Erholung nach Menden kommen
Tatjana darf mit ihrer Mama und ihrem Bruder zu Winfried und Regina Avenarius nach Menden kommen. Winfried Avenarius ist damals Geschäftsführer des Tschernobyl-Vereins. Zehn Mal kommen die Kinder wieder, und der Kontakt hält auch darüber hinaus. Regina Avenarius war erst vor drei Jahren zuletzt bei Tatjana, die mit ihrer Familie in Kiew lebte. Es ist eine Freundschaft fürs Leben.
Einst die Flucht vor der Strahlung, jetzt die Flucht vor dem Krieg
„Mendener in Not“ steht bereit
Der Hilfeverein „Mendener in Not“ hat ukrainische Eltern oder deren Gastgeber ausdrücklich ermutigt, die angebotene Unterstützung in Anspruch zu nehmen, insbesondere wenn es um Schulsachen für Kinder oder sonstige Bedarfe von Familien geht. „Auch Sie sind jetzt Mendener“, sagte dazu der Vorsitzende Klaus Ullrich am Samstag, dem „Welcome“-Tag für die ukrainischen Neubürger an der Albert-Schweitzer-Grundschule im Lahrfeld.
Beiratsmitglied Maria-Cristina Gummert ist im Fall des Falles auch hier die erste Ansprechpartnerin für unbürokratische Hilfe.
Sie ist unter den Mendener Rufnummern 02373/390095 und 02373/928710 erreichbar.
Heute, zum Willkommens-Samstag für die ukrainischen Familien in Menden an der Albert-Schweitzer-Grundschule im Lahrfeld, ist Regina Avenarius mit Tatjana gekommen. Das kleine Mädchen von einst ist jetzt eine erwachsene Ärztin, ihr Ehemann Juri ist IT-Manager, auch ihre Söhne Grischa (5) und Mischa (12) sind dabei. Doch diesmal kam Tatjana aus Kiew zu Regina, um vor Putins Krieg zu fliehen. Ob sie je wieder zurück will, weiß sie noch nicht. Zu viel daheim ist kaputt, auch die medizinische Versorgung.
Ausreise beinahe gescheitert: Busfahrer bekam Corona
Ihr Mann durfte überhaupt nur mit über die rettende Grenze kommen, weil der kleine Grischa eine Form von Autismus hat. Wenn Kinder besondere Unterstützung brauchen, dürfen ukrainische Familien komplett ausreisen. Trotzdem hätte es beinahe nicht geklappt, erzählt Tatjana in einem Mix aus Deutsch und Englisch: „Unser Busfahrer ist in letzter Sekunde ausgefallen – wegen Corona.“
Arbeitsverhältnis mit US-Pharmakonzern hält auch in Menden
Tatjana und Juri haben in Kiew für eine US-Pharmafirma gearbeitet, und genau das tun sie auch jetzt – im Homeoffice bei Regina Avenarius. Beide verdienen gut, ihr Konzern überweist die Gehälter auch nach Menden. Regina Avenarius hat hier für sie bereits eine eigene Wohnung in Aussicht. Im Lahrfeld soll es heute um die Schule für die Jungs gehen, hier gibt es die Beratung dafür. Außerdem können sie beim Übersetzen helfen.
Kinderhilfe Tschernobyl in Menden wird 2009 nach 16 Jahren aufgelöst
Die Kinderhilfe Tschernobyl hat sich 2009 aufgelöst, obwohl es bis heute Bedarf an Erholungsaufenthalten gäbe. Doch das Interesse auf der Gastgeberseite ist irgendwann abgeflaut. Wohl auch, weil die Reaktor-Katastrophe längst von anderen abgelöst wurde. Die jüngste, der Ukraine-Krieg, ist an diesem Samstag im Lahrfeld allgegenwärtig.