Menden. In der Serie zum 75. WP-Jahr geht es heute in Mendens Katakomben. Die Rathaus-Tiefgarage bietet einen Platz Nr. 75 – und ungeahnte Geschichten.

Die Nummer 75 gibt’s hier unten Schwarz auf Weiß. Aufgesprüht auf die Wand der Rathaus-Tiefgarage wirkt sie ganz unscheinbar. Und doch: Zigtausende Mendenerinnen und Mendener oder Gäste der Hönnestadt haben hier schon ihr Auto abgestellt. Als Tagesparker, die den günstig gelegenen Platz nah am Kassenautomaten und am Eingang zum Rathaus-Aufzug ergattert haben. Oder als Dauernutzer, die für 70 Euro im Monat hier sogar den Schlüssel fürs Rolltor erhalten, damit sie auch nachts reinkommen. Fest anmieten kann man die 75 nicht, das geht hier nirgendwo.

Ein unterirdisches Reich für sich – das Reich von Gerd Loose

Die Tiefgarage hat 194 Plätze und ist ein unterirdisches Reich für sich, das Reich von Gerd Loose. Seit 40 Jahren bei der Stadt Menden, chauffierte er als Jungspund einst die Bürgermeister Ernst Eisenberg und Otto Weingarten, bis er vor 20 Jahren in die Tiefgaragen-Verwaltung kam. Vor dem Aus für das mittlerweile abgerissene Parkhaus Nordwall hielt Loose sein waches Kameraauge auch auf die Parkpalette. Geschichten aus der Tiefe kennt er unendlich viele, und er erzählt sie so lebendig, Dostojewski hätte einen Roman draus gemacht. Hier spielt sich alles ab, was zum Leben gehört. Die Liebe, das Verbrechen, auch Corona, und auch der Tod.

Mann bricht auf dem WC tot zusammen, Paare lieben sich in lauschigen Ecken

Unscheinbar – und doch unentbehrlich: Der Tiefgaragenplatz Nummer 75 in Menden liegt günstig neben dem Kassenhäuschen und dem Eingang zum Rathaus-Aufzug.
Unscheinbar – und doch unentbehrlich: Der Tiefgaragenplatz Nummer 75 in Menden liegt günstig neben dem Kassenhäuschen und dem Eingang zum Rathaus-Aufzug. © WESTFALENPOST | Thomas Hagemann

Tatsächlich hat Loose vor Jahren einen Verstorbenen gefunden, auf dem WC, das es damals hier unten noch gab. „Ich habe versucht, den Mann wiederzubeleben, aber da war nichts mehr zu machen.“ Ein normaler Bürger sei das gewesen. Menschen ohne Auto, die sich hier aufhalten, sind dagegen oft obdachlos. Oder es sind Jugendliche, die sich im Winter aufwärmen wollen.

Schausteller die Einnahme geklaut

Früher, als die Plätze noch nicht ausgeleuchtet waren, hat Loose Liebespaare beim Akt erwischt, die sich in der Dunkelheit sicher wähnte. Unentdeckt blieb der Pfingstdieb, der einem Schausteller die Tageseinnahme des Karussells aus dem unverschlossenen Auto geklaut hatte. Und Corona? Sorgt hier nicht nur für Maske und Abstand, sondern auch für kürzere Öffnung. Das im August 2019 begonnene Experiment, ein Jahr lang täglich von 7.30 bis 22.30 Uhr zu öffnen, musste im März ‘20 abgebrochen werden.

Notknopf im Dauerbetrieb: „Kinder drücken eben gerne Knöpfe“

Langweilig wird Looses Job nie. Leute drücken den Notknopf, weil der Kassenautomat den Plastikchip verweigert. Nicht selten haben sie den Einkaufs-Chip eingeworfen. „Kinder drücken eh gerne Knöpfe“, das lächelt Loose weg. Brandalarme sind zum Glück so gut wie immer falsch, trotzdem trennen dann große Tore die Sektoren.

Mietplatz kostet 50 oder 70 Euro

Die Plätze in der Rathaus-Tiefgarage kann man anmieten, ob Rathaus-Beschäftigte oder ganz normale Bürger. Die können 70 Euro bezahlen, dann gilt, dass man 24 Stunden an sieben Tagen die Woche den Wagen hier abstellen kann. Für das über Nacht geschlossene Rolltor gibt es dann den Schlüssel.

Man kann auch nur 50 Euro im Monat bezahlen. Dafür wird tagsüber geparkt, aktuell von 7 bis 20.30 Uhr, samstags von 8 bis 16.30 Uhr. Nachts bleibt der Wagen drin oder draußen, den Schlüssel gibt es nicht.

Kein Stellplatz ist fest zugewiesen. Nur für die 16 Dienstwagen der Stadt ist der hintere Bereich des verwinkelten Gebäudes reserviert. Sechs Plätze unter der Kamera sind Frauen vorbehalten. Wirklich für Frauen freihalten kann Gerd Loose sie nicht. „Männer, die da aussteigen, sagen mir schon mal, sie hätten auch weibliche Gene.“

Volker Fleige war der letzte Bürgermeister mit eigenem Stellplatz.

Einmal hat ein Ausfahrer seinen Wagen auf der Rampe abgestellt und die Handbremse nicht angezogen. Das herrenlose Auto riss das Rolltor beidseits aus den Angeln, das ist heute noch zu sehen. Alle naselang krachen Pkw vor die Schranken, die deswegen nur eingeklemmt sind. Doch das alles ist ein Klacks gegen die Anfangszeiten der gut 40 Jahre alten Katakombe: „Oben auf der Insel stand ein Kassenhäuschen, bis es von einem Müllwagen plattgefahren wurde“, weiß Loose. „Der Kollege drinnen ist knapp mit dem Leben davongekommen.“

Wirtschaftlich ist die Tiefgarage nicht – nur ein Euro pro angefangener Stunde

Gerd Loose arbeitet im Schichtdienst mit drei Kollegen. Wirtschaftlich, sagt Abteilungschef Stefan Börsting, sei die Tiefgarage nicht zu betreiben, nicht für einen Euro je angefangener Stunde. Daran ändert auch Werbung nichts: Auf der Schranke trommelt Daub für die „Welt der Bücher auf zwei Etagen.“ Eine Welt für sich ist das hier unten auch – auf einer Etage.