Menden/Lüdenscheid. Landrat Marco Voge (CDU) erklärt im WP-Interview, warum er trotz 141,4 Inzidenz für Lockerungen ist und das trotzdem kein Glücksspiel sei.

Der neue Landrat Marco Voge (CDU) trägt mit der Kreisverwaltung die Verantwortung für wichtige Entscheidungen in der Corona-Krise. In den vergangenen Tagen musste er auch Kritik einstecken. Im Interview mit WP-Reporter Arne Poll erklärt der 41-Jährige, warum er Entscheidungen so getroffen hat und wie es nun weitergehen soll.

Die Inzidenz im Märkischen Kreis ist wieder gestiegen, mittlerweile auf 141,4. Nirgendwo sonst im deutschen Westen ist die Ansteckungsgefahr so hoch wie im Märkischen Kreis. Warum gibt es dann ausgerechnet jetzt Lockerungen?

Marco Voge: Grundlage ist die Coronaschutzverordnung für Nordrhein-Westfalen. Darin wird der landesweite Sieben-Tages-Inzidenzwert berücksichtigt. Somit gelten die vorsichtigen Öffnungsschritte auch für unseren Kreis. Der hohe Inzidenzwert hat verschiedene Gründe, die weiterhin vor allem mit dem privaten Bereich sowie mit lokalen Ereignissen zu tun haben. Wir testen sehr umfangreich und die ansteckendere, britische Virusmutation B.1.1.7 ist in unserem Kreis längst vorherrschend. Unsere intensive Nachverfolgung führt dazu, dass viele Infektionen ermittelt werden.

Voge: Haben kaum noch Infizierte in Pflegeeinrichtungen

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Das Land hat ja ausdrücklich die Möglichkeit einer Notbremse gegeben. Als Kreis hätten Sie es in der Hand, die Notbremse zu ziehen. Warum greifen Sie nicht zu?

Im Krisenstab haben wir uns bislang ganz bewusst dazu entschieden, sie nicht zu ziehen. Es ist richtig, dass die Inzidenzzahl in unserem Kreis aktuell leider mit 141,4 (Stand Donnerstag, 10 Uhr) besonders hoch ist. Aber sie kann nicht alleiniger Maßstab für weitreichende Entscheidungen und Einschränkungen sein. Die 50er-Inzidenz war ursprünglich darin begründet, dass wir die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht überlasten und die Nachverfolgung sicherstellen können. In den vergangenen Wochen und Monaten hat sich gezeigt, dass wir das auch bei höheren Inzidenz-Werten gewährleisten können. Wir berücksichtigen viele weitere Faktoren, darunter die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus, den R-Wert, die Situation in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen und vieles mehr. In Bezug auf den wichtigen Schutz der vulnerablen Gruppen machen wir große Fortschritte: Wir haben kaum noch Infizierte in den Pflegeeinrichtungen. Das sind gute Nachrichten. Im Märkischen Kreis sind die Impfungen in diesen Einrichtungen abgeschlossen.

Darüber hinaus müssen wir die möglichen Folgen einer Notbremse, die nur für unseren Kreis gilt, berücksichtigen: Wir wollen doch Mobilitätsströme in andere Kreise und ineffektive Alleingänge vermeiden. Und ein ständiger Wechsel zwischen Öffnungsschritten und erneuten Schließungen verunsichert. Deshalb ist eine sorgfältige Abwägung richtig. Wir werden die Situation im Krisenstab weiter genau analysieren und im Notfall auch strikte Maßnahmen einleiten.

„Eine Perspektive zurück zur Normalität ist sehr wichtig“

Hausarzt zu Impfungen- „Wir wären vor dem Sommer durch“Alle haben sich wegen der Regeln in den vergangenen Monaten einschränken müssen. Im Kreis sind Existenzen den Bach heruntergegangen. Warum eigentlich, wenn jetzt die Regeln doch nicht so wichtig waren?

Es ist selbstverständlich auch jetzt noch sehr wichtig – gerade weil die ansteckendere, britische Mutation hier vorherrschend ist –, umsichtig, vorsichtig und diszipliniert zu sein. Dieser dringende Appell gilt weiterhin und besonders für den privaten Bereich. Wir haben jetzt aber eine andere Situation als noch kurz vor Weihnachten. Am 23. Dezember 2020 hatten wir eine Inzidenz von 224,3. An diesem Tag waren 269 Bewohner in Pflegeeinrichtungen infiziert, am Donnerstag waren es glücklicherweise nur 21. Das zeigt doch deutlich: Die Impfungen wirken, auch wenn wir uns alle zusammen mehr Impfstoff wünschen. Eine vorsichtige und überlegte Öffnungsstrategie und eine Perspektive zurück zur Normalität sind sehr wichtig – in Hinblick auf die sozialen und psychischen Folgen, aber auch, um der Wirtschaft Perspektiven zu geben und Existenzen zu sichern. +++ Wie sehen Sie die Corona-Krise? Hier im Corona-Check die Meinung sagen! +++

Muss man nicht ehrlich festhalten, dass es gerade auf vielen Ebenen ziemlich chaotisch läuft?

Man muss festhalten, dass in unserem Krisenstab und auch in vielen Bereichen darüber hinaus sehr fokussiert und organisiert gearbeitet wird. Festhalten muss man auch einmal, dass die Rückmeldungen von Geimpften aus unserem Impfzentrum in Lüdenscheid zu 99 Prozent positiv sind. Dafür gebührt allen Beteiligten ein großer Dank. Chaotisch läuft es also definitiv nicht. Es ist eine seit über einem Jahr andauernde Ausnahmesituation, in der auch Fehler passieren können – das ist menschlich. Wir geben vor Ort unser Bestes, wie die meisten in ihren Berufen. Viele Themen fallen allerdings nicht in die direkte Zuständigkeit des Kreises.

„Es gibt keine Empfehlungen und Vorgaben zu Entscheidungen vom Ministerium“

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Gibt es jemanden von Land oder Bund, der Ihnen geraten hat, die Notbremse besser nicht zu ziehen?

Zunächst entscheiden wir darüber eigenständig vor Ort – der Rahmen dafür kommt vom Land und vom Bund. Wir arbeiten stets auf Grundlage der geltenden Erlasslage. Und mit den Experten im Krisenstab wird sorgfältig analysiert, abgewogen und entschieden. Wir haben uns natürlich mit dem Gesundheitsministerium fachlich beraten. Empfehlungen oder Vorgaben gibt es nicht.

Wie sieht denn der Kontakt zum Land und Bund aus? Als ehemaliger Landtagsabgeordneter werben Sie ja bewusst mit den Netzwerken.

Der Austausch findet auf verschiedenen Wegen statt. Auf Arbeitsebene finden zu verschiedenen Themen (Impfstrategie, Teststrategie, etc.) regelmäßig Video- und Telefonkonferenzen statt. Der fachliche Austausch auch zwischen den Kreisen ist ja enorm wichtig. Dieser findet darüber hinaus auch auf politischer Ebene statt. Selbstverständlich spreche ich auch mit anderen Landräten, beispielsweise über regelmäßige Telefon- und Videokonferenzen mit dem Landkreistag oder politischen Entscheidungsträgern auf Landes- und Bundesebene. Das gute Netzwerk war die Grundlage dafür, dass wir in Iserlohn die zweite Impfstelle einrichten können.

Sind die Entscheidungen nicht auch irgendwie ein Glücksspiel? Wenn die Zahlen jetzt sinken, wären Sie ja derjenige, der alles richtig gemacht hat.

Nein, Glücksspiel sind sie nicht. Die Entscheidungen resultieren aus einer täglichen und gründlichen Abwägung. Die Situation und die Erlasslage sind dabei sehr dynamisch und erfordern eine immer neue Bewertung. Es geht auch nicht um mich, sondern wir treffen Entscheidungen gemeinsam. Die Verantwortung dafür übernimmt dann der Landrat in der Öffentlichkeit. Das mache ich mit großer Überzeugung, weil ich uneingeschränktes Vertrauen in das Team habe.

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