Menden. Wie erleben Kinder und Jugendliche die Coronazeit? Welche Auswirkungen sind spürbar? Torsten Filthaut, Leiter der Caritas-Beratung, im Interview.

Corona hat nicht nur den Alltag und das soziale Leben der Erwachsenen, sondern vor allem auch den der Kinder und Jugendlichen verändert. Geschlossene Kitas, Homeschooling, Kontaktbeschränkungen, finanzielle Probleme in den Familien – wie gehen die Jüngsten damit um? Wir haben mit Torsten Filthaut, Leiter der Familien- und Erziehungsberatungsstelle der Caritas in Menden, über die Auswirkungen gesprochen, die jetzt schon spürbar sind oder sich noch in den nächsten Monaten und Jahren zeigen könnten.

Herr Filthaut, sie schreiben in Ihren Jahresbericht, dass Kinder eher unaufgeregt mit der Corona-Situation umgehen. Sind es eher wir Erwachsene, die die Probleme haben?

Man muss da unterscheiden. Im ersten Lockdown im vergangenen Jahr waren ja zunächst die Corona-Hygienemaßnahmen ein großes Thema. Wir haben damals festgestellt, dass Kinder, und insbesondere Jugendliche, damit fast wie selbstverständlich umgegangen sind und auch die Einschränkungen in Kauf genommen haben – im Gegensatz zu vielen Erwachsenen. Deshalb haben wir den Begriff „unaufgeregt“ gewählt. Das hat sich aber geändert. Wir stellen fest, dass die Verunsicherung bei Jugendlichen zunimmt, je länger der Zustand anhält.

Wie macht sich diese Verunsicherung bemerkbar?

Ein schnelles Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Und die Kinder, je nach Alter, und vor allem die Jugendlichen bekommen zunehmend die Sorgen in der Familie mit, Jobschwierigkeiten, finanzielle Probleme. Das überträgt sich natürlich. Sie fangen selbst an, sich Sorgen zu machen. Vereinsleben zu haben, sich zu sehen, sich zu treffen, auszutauschen, das fällt alles flach. Für sie eine schwierige Situation – und das merkt man jetzt. Es geht den Kindern und Jugendlichen zunehmend an die Substanz. Das bestätigen ja auch Kinderärzte, Kinder- und Jugend-Psychiater und -Psychotherapeuten, die feststellen, dass depressive Anteile im Moment steigen.

Stellen Sie auch bei Ihrer Arbeit in der Beratungsstelle fest, dass sich Probleme verschärfen, dass es für Kinder und Jugendliche zunehmend schwieriger wird?

Was wir sehr dramatisch finden und sich viele vielleicht auch nicht bewusst machen: Wenn wir Erwachsene in dieser Corona-Zeit ein Event haben, beispielsweise ein runder Geburtstag, können wir das Feiern irgendwann nachholen. Aber die speziellen Übergänge im Leben von Kindern und Jugendlichen, wie Einschulung, Schulabschlüsse, Konfirmation, Kommunion und Studienbeginn, das ist alles einmalig. Das alles fällt in der Biographie weg, und das ist schon nicht ohne. Jugendliche kompensieren Kontaktbeschränkungen zwar ganz gut damit, dass sie online in Kontakt sind mit anderen, das ist ja nichts Neues. Aber gerade denjenigen, die vorher eingebunden waren in Sportvereine, Musikgruppen, fehlt das total. Da leiden sie zunehmend drunter.

Merken Sie, dass sich deshalb auch verstärkt Jugendliche an die Beratungsstelle wenden?

Jugendliche kommen nicht speziell wegen der Corona-Situation zu uns. Aber es kommen Familien mit Kindern und Jugendlichen zu uns, die bestimmte Anliegen überhöht haben, zum Beispiel Familien mit psychischen Erkrankungen, das wird natürlich durch Corona nicht besser. Das heißt, sie sind noch isolierter, in den Familien wird es noch schwieriger. Oder wenn finanzielle Sorgen da sind – die Folgeerscheinungen sind schon spürbar. Kinder machen sich ganz konkret Sorgen, was kann ihnen passieren, was kann ihren Eltern und Großeltern passieren.

Gibt es Familien, die durch Corona besonders betroffen und belastet sind?

Ja, das sind diejenigen Familiensysteme, die auch vorher schon instabil gewesen sind, durch Erkrankungen, finanzielle Notlagen, Arbeitslosigkeit. Oder auch Alleinerziehende. Es fällt ja das gesamte Unterstützungssystem weg, durch Schulwegfall, geschlossene Kitas, Tageskliniken haben zeitweise geschlossen. Das sind die, die noch mal heftiger mit der Situation zu tun haben.

Ihre Arbeit hat sich durch die Krise stark verändert, sie machen Onlineangebote, Präsenzgruppen, beispielsweise für Kinder aus psychisch belasteten Familien, können zurzeit nicht stattfinden. Was bedeutet das für die Beratungsarbeit?

Wir haben das Glück, das wir sehr schnell technisch aufrüsten konnten. Das ist auch etwas, das bleiben wird. Das Angebot einer Videoberatung zwischendurch kann auch mal gut sein. Dadurch kann sich eine gute Ergänzung ergeben. Es wird sich aber vor allem auch inhaltlich an unserer Arbeit etwas ändern. Was werden die Folgen der Pandemie mit den Kinder, Jugendlichen und Familien machen? Die Pandemie ist eine Erfahrung, die zeigt, die Menschheit hat doch nicht alles im Griff. Das heißt, es können Dinge passieren, und auf einmal ist alles komplett anders. In den nächsten Monaten und Jahren wird sich zeigen, was das für eine Auswirkung haben wird auf die Befindlichkeit.

Unsicherheit, Ängste, Sorgen – das sollte ja eigentlich nicht das sein, was man mit der Jugend verbindet, sondern eher Aufbruch, Ausprobieren….

Die Kindheit und Jugend, die wir in unserer freien Gesellschaft glücklicherweise haben, ist unbeschwert. Es gibt immer familiäre Schicksale und es gibt Familien, die unter hohen Belastungen leben, leben müssen. Für sie sind wir ja als Beratungsstelle da. Das hat sich jetzt umgedreht. Auf einmal gerät alles aus den Fugen und es keiner etwas dran machen, zumindest nicht schnell. Das ist auch etwas, das wir in unserer freiheitlichen europäischen Gesellschaft so auch noch nicht gehabt haben in den letzten Jahrzehnten. Dieses unbeschwerte Ausleben als Kind oder als Jugendlicher, das findet im Moment nicht statt oder kann nicht stattfinden. Und das wird eine Auswirkung haben.

Können Sie jetzt Erwachsenen – also Eltern, Erziehern, Lehrern – etwas mit auf den Weg geben für die Zeit nach der Pandemie?

Stabile Eltern, Erzieher, geben Kindern Sicherheit. Es ist wichtig, darauf eingehen, wenn Kindern Fragen haben. Diese Generation wird einiges in ihrer Biographie nicht so machen können wie alle anderen. Das sollte nicht unterschätzt werden. Ihnen sollte deshalb mit Geduld und Verständnis begegnet werden. Es sind nicht nur die kleinen Kinder und Jugendlichen, es sind auch die jungen Erwachsenen, die ihr Studium beginnen. Es gibt Studenten, die haben schon ein Semester studiert, aber noch nicht einmal die Uni von innen gesehen. Es sind einfach Erfahrungen, die wegfallen. In wieweit das alles Auswirkungen haben wird, ist noch nicht abzuschätzen, aber es sind alles Dinge, die man mit bedenken muss.