Menden. Für Rolf Bührmann ist die Inschrift auf dem Grabstein auf dem alten evangelischen Friedhof in Menden Mahnmal. Sein Cousin wurde nur 23 Jahre alt.

Als Hans Hunger in den Krieg ziehen musste, hatte er in Menden gerade Abitur gemacht. Er war der einzige Sohn seiner Eltern, hatte Pläne für die Zukunft. Hans Hunger kehrte nie zurück. „Vermisst in Stalingrad mit 23 Jahren“, erinnert die Gravur auf dem Grabstein seiner Eltern Grete und Oskar Hunger auf dem alten evangelischen Friedhof am Heimkerweg bis heute an seinen Tod. Sein Cousin Rolf Bührmann pflegt die Stätte regelmäßig. Den 83-Jährigen hat das Schicksal Hans Hungers nie losgelassen. Der Grabstein ist für ihn auch Mahnmal.

2012 reiste er nach Rossoschka, dort wird auf einer Stele an Hans Hunger erinnert, gemeinsam mit mehr als 103.000 Namen von Vermissten der Kämpfe in Stalingrad.
2012 reiste er nach Rossoschka, dort wird auf einer Stele an Hans Hunger erinnert, gemeinsam mit mehr als 103.000 Namen von Vermissten der Kämpfe in Stalingrad. © Rolf Bührmann | Rolf Bührmann

Auf dem alten evangelischen Friedhof hat 2003 die letzte Beerdigung stattgefunden, im Laufe der Jahre sind nach und nach Grabstätten eingeebnet worden, nur wenige der verbliebenen werden noch gepflegt. Rolf Bührmann macht sich alle 14 Tage auf den Weg von Werl nach Menden in seine Geburtsstadt. Vor 20 Jahren hat er die Pflege des Grabes von Tante und Onkel übernommen. „Ich habe eine emotionale Bindung an das Familiengrab und an meinen Onkel“, sagt der 83-Jährige. Die Tante habe nach dem Tod ihres Mannes entschieden, dass auch der Name des Sohnes auf den Stein graviert werden soll: „Hans Hunger vermisst in Stalingrad“. Rolf Bührmann hat später noch „mit 23 Jahren“ hinzufügen lassen. „Es soll nachfolgenden Generationen zeigen, wo das hinführt“, sagt Rolf Bührmann. „Ich habe die Folgen des Krieges doch miterlebt.“

Keine persönlichen Erinnerungen

An seinen Cousin kann sich Rolf Bührmann persönlich nicht mehr erinnern. Hans Hunger wurde 1919 geboren, 1940 eingezogen. Er musste direkt nach Stalingrad. Rolf Bührmann war da gerade drei Jahre alt. Seit Dezember 1942 galt sein Cousin als vermisst. „Das war für die Eltern schrecklich“, blickt Rolf Bührmann zurück. Er selbst habe schon eine tolle Jugend gehabt. „Auch mein Cousin hatte ein tolles Leben vor sich. Aber er hatte keine Möglichkeit zu leben.“ Daran müsse er häufig denken. Immer wieder sei in den Jahren nach dem Krieg das Rote Kreuz angeschrieben worden in der Hoffnung, das Schicksal Hans Hungers aufzuklären und Gewissheit zu haben. „Erst vor 20 Jahren haben wir Informationen bekommen.“

Rolf Bührmann ist es ein großes Anliegen, die Erinnerung an das schreckliche Leid der Opfer des Krieges und deren Angehöriger wach zu halten. Er habe sämtliche Bücher über die Schlacht bei Stalingrad regelrecht aufgesogen. „Tausende Gefangenen wurden durch Moskau getrieben. Es war kalt, sie hatten keine Kleidung, wurden verachtet – etwas Schlimmeres kann ich mir nicht vorstellen. Man darf einfach nicht vergessen, welches Leid der Krieg gebracht hat.“ Gerade auch deshalb verstehe er nicht, dass sich Hass wieder breitmache. „Ich habe Sorge, dass wieder etwas aufflammt“, sagt er ernst.

2008 nach Stalingrad

„Das war emotional unglaublich ergreifend“, beschreibt Rolf Bührmann den Moment, als er den Namen seines Cousins erblickte. Er hat Erde von der Stele mit nach Hause genommen.
„Das war emotional unglaublich ergreifend“, beschreibt Rolf Bührmann den Moment, als er den Namen seines Cousins erblickte. Er hat Erde von der Stele mit nach Hause genommen. © Thekla Hanke | Thekla Hanke

2008 macht sich Rolf Bührmann schließlich selbst auf den Weg nach Stalingrad, das heute Wolgograd heißt, zur Deutschen Kriegsgräberstätte Rossoschka. 107 Granitwürfel tragen dort die Namen von 103.234 Vermissten der Kämpfe um Stalingrad, einer von ihnen: „Hans Hunger *5.9.1919 Dez. 1942“. „Das war emotional unglaublich ergreifend“, beschreibt Rolf Bührmann den Moment, als er den Namen seines Cousins erblickte. Er hat Erde von der Stele mit nach Hause genommen. Die Reise habe ihm auch eine verspätete Trauer ermöglicht und ihn darin bestärkt, dass das Geschehene nicht vergessen werden dürfe. Den Grabstein auf dem alten evangelischen Friedhof in Menden sieht er seitdem umso mehr auch als Mahnmal für nachfolgende Generationen. Auch deshalb würde er sich sehr wünschen, dass der Friedhof auf Dauer erhalten bleibt: „Es würde mir in der Seele wehtun, wenn das hier mal vorbei wäre.“

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