Menden. . Sie schneiden sich mit Rasierklingen, verbrühen ihre Haut, reißen Wunden auf. Psychologin Prell-Tuttas erklärt, warum Jugendliche sich verletzen.

Ein Viertel aller Jugendlichen soll es zumindest schon einmal ausprobiert haben. Sie verletzten sich vorsätzlich, um damit ein akutes Problem zu bewältigen. Auch Ursula Rosenthal aus der Abteilung Jugend und Familie der Stadt Menden hat beobachtet, dass Kontaktpersonen von Jugendlichen immer häufiger mit selbstverletzendem Verhalten konfrontiert werden. In einer zweitägigen Fortbildung, organisiert vom Team Stadtteilarbeit und dem Jugendschutz, haben sich deshalb Mitarbeiter aus Schulsozialarbeit, Kinder- und Jugendeinrichtungen und dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) mit dem Thema befasst.

Team Stadtteilarbeit und Jugendschutz der Stadt Menden organisieren eine Fortbildung zum Thema selbstverletzendes Verhalten.
Team Stadtteilarbeit und Jugendschutz der Stadt Menden organisieren eine Fortbildung zum Thema selbstverletzendes Verhalten. © Stadt Menden

Was treibt Kinder und Jugendliche dazu, sich selbst mit einer Rasierklinge oder einem Messer zu verletzen, sich die Haut zu verbrühen oder Wunden immer wieder aufzureißen? Was können Eltern, Lehrer, Freunde tun? Yvonne Prell-Tuttas, Psychologin beim Fachdienst gegen sexuelle Gewalt des Zweckverbandes für psychologische Beratungen und Hilfen, betont: „Selbstverletzendes Verhalten sollte in jedem Fall ernst genommen werden.“ Denn: „Es ist in fast allen Fällen ein Ausdruck psychischer Not und Verzweiflung.“ Die Kinder und Jugendlichen können in einen Teufelskreis geraten. Deshalb ist es wichtig ist, Hilfe zu bekommen – und die Ursache für das Verhalten zu finden. Die Psychologin erklärt, warum manche Kinder und Jugendliche dieses, für Außenstehende häufig kaum nachvollziehbaren Verhalten, nutzen, sie benennt Hilfsangebote und Möglichkeiten der Prävention.

Häufigste Form ist das sogenannte „Ritzen“

Unter selbstverletzendem Verhalten versteht man funktionell motivierte, direkte und offene Verletzungen des eigenen Körpers ohne suizidale Absicht, die – im Gegensatz zu Tattoos oder Piercing – sozial nicht akzeptiert sind.

Als Störung wird selbstverletzendes Verhalten eingestuft, wenn es nicht nur einmal ausprobiert, sondern wiederholt durchgeführt wird. Die häufigste Form der Selbstverletzung ist das sogenannte „Ritzen“.

Zirka fünf Prozent der Jugendlichen zeigen wiederholt selbstverletzendes Verhalten. Der Beginn liegt meist bei einem Alter von 12 bis 14 Jahren, wobei Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen.

Deutschland zählt innerhalb Europas zu den Ländern, in denen sich Jugendliche am häufigsten selbst verletzen.

Ist selbstverletzendes Verhalten in ihrem Berufsalltag häufig Thema?

Yvonne Prell-Tuttas: In meinem Berufsalltag habe ich sehr häufig mit selbstverletzendem Verhalten zu tun. Ich betreue hauptsächlich Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt (auch häuslicher Gewalt oder Mobbing) betroffen sind oder es waren. Etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, die ich zurzeit berate, leiden oder litten unter selbstverletzendem Verhalten. Allgemein lässt sich sagen, dass psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren insgesamt zugenommen haben.

Was sind die Beweggründe der Kinder und Jugendlichen?

Kinder und Jugendliche nutzen selbstverletzendes Verhalten, um z.B. Stress und Anspannung zu vermindern und sich von quälenden negativen Gedanken und Gefühlen abzulenken. Auch können Selbstverletzungen der Selbstbestrafung oder der Kontrolle von Wut dienen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass selbstverletzendes Verhalten eine Strategie zur Bewältigung unerträglicher Gedanken, Emotionen und Zustände ist. Die Betroffenen geraten häufig in dysfunktionale Gedanken (zum Beispiel „Ich bin schuld. Mich mag sowieso keiner.“), die sich derart steigern, dass sich ein überwältigendes Gefühl sich selbst verletzen zu müssen („Ritzdruck“) einstellt.

Warum ist es für die Jugendlichen so schwer, ihr Verhalten zu ändern? Sie leiden doch darunter....

Die Selbstverletzung geschieht meist heimlich, oft nach längerem innerem Kampf gegen den Impuls, sich selbst weh zu tun. Das Schmerzempfinden der Betroffenen ist während des „Ritzens“ durch die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten herabgesetzt. Die Schmerzen werden erst hinterher gefühlt und bewirken eine Ablenkung vom zuvor gefühlten seelischen Schmerz.

Yvonne Prell-Tuttas, Psychologin beim Fachdienst gegen sexuelle Gewalt des Zweckverbandes für psychologische Beratungen und Hilfen
Yvonne Prell-Tuttas, Psychologin beim Fachdienst gegen sexuelle Gewalt des Zweckverbandes für psychologische Beratungen und Hilfen © Thekla Hanke

Die Stimmungslage der Betroffenen verbessert sich danach deutlich. Es entstehen Gefühle der Erleichterung und sogar der Euphorie durch die Ausschüttung von Endorphinen im Gehirn. Dieser Zustand kann süchtig machen. Trotz aller subjektiv erlebt positiver Wirkungen löst selbstverletzendes Verhalten aber auch Gefühle der Beschämung, Wut und Frustration über die eigene Schwäche aus, welche das ohnehin schon negative Selbstbild bestätigen. In der nächsten belastenden Situation tritt dann wieder der Drang zur Selbstverletzung auf, so dass ein Teufelskreis entsteht, aus dem die Betroffenen nur schwer wieder herausfinden.

http://Hier_gibt_es_mehr_Artikel,_Bilder_und_Videos_aus_Menden{esc#225922603}[teaser]Wie Sie sagen, geschieht die Selbstverletzung meist heimlich. Wie sollten Eltern reagieren? Sollten sie ihr Kind offen ansprechen, wenn sie Anzeichen entdecken?

Selbstverletzendes Verhalten ist immer ein Alarmsignal dafür, dass der Jugendliche nur über eingeschränkte Problemlösestrategien verfügt, was weitere psychische Probleme zur Folge haben kann. Da die Ursachen für das Verhalten sehr vielfältig sind, gilt es – am besten mit professioneller Unterstützung – herauszufinden, was hinter den Selbstverletzungen steckt, um dem Betroffenen helfen zu können. Eltern sollten ihr Kind in verständnisvoller Weise direkt auf das selbstverletzende Verhalten ansprechen und ihm keine Vorwürfe machen. Sie sollten möglichst unaufgeregt bleiben, sich Zeit nehmen und ihr Kind nach den Gründen für das Verhalten fragen. Dem Kind sollte dabei vermittelt werden, dass es als Person akzeptiert und wertgeschätzt wird, das Verhalten aber nicht. Machtkämpfe in Form von Rasierklingen wegnehmen oder den Körper des Kindes abzusuchen sind nicht zielführend. Auch Drohungen, Bestrafungen oder das Setzen eines Ultimatums haben zur Folge, dass der Druck, sich selbst zu verletzen, beim Kind steigt.

Wo finden Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern Hilfsangebote?

Eltern sollten sich darüber im Klaren sein, dass das Verhalten eine Funktion besitzt und das Kind nur damit aufhören kann, wenn es alternative Strategien zur Verfügung hat. Ziel eines Gesprächs mit dem Kind sollte es sein, es dazu zu motivieren, gemeinsam professionelle Hilfe aufzusuchen. Diese finden betroffene Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern z.B. in Beratungsstellen, bei Kinder- und Jugendpsychologen, Schulsozialarbeitern, Kinderärzten sowie Kinder- und Jugendpsychiatern.

Das so genannte Ritzen ist die häufigste Form der Selbstverletzung.
Das so genannte Ritzen ist die häufigste Form der Selbstverletzung. © dpa Picture-Alliance / CHROMORANGE / Peter Raider

Gibt es Möglichkeiten der Prävention? Was können Eltern oder Freunde tun?

Die beste Prävention ist das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Gefühlen und Konflikten sowie die Entwicklung eines positiven Selbstbildes. Eltern dienen hierbei als Vorbild und sollten ihren Kindern einen gesunden Umgang mit den eigenen Gefühlen vorleben und ihnen als Ansprechpartner bei Problemen zur Verfügung stehen, um mit ihren Kindern gemeinsam nach Lösungen zu suchen. In der Pubertät nicht den Draht zu seinem Kind zu verlieren, ist häufig „einfacher gesagt als getan“. Auch wenn die Jugendlichen sich zurückziehen und oft genervt reagieren, sollte man ihnen zu verstehen geben, dass man sie respektiert, sich um sie sorgt und für sie da ist. Erfährt man, dass ein Freund oder eine Freundin sich selbst verletzt, sollte man ruhig zuhören und zeigen, dass man sich Sorgen macht. Auch wenn man als Freundin oder Freund versprochen hat, es nicht weiter zusagen, ist es wichtig, sich an eine erwachsene Vertrauensperson zu wenden. Man sollte deutlich machen, dass man das Problem ernst nimmt, aber alleine nicht lösen kann und versuchen, den Betroffenen dazu zu überreden, sich Hilfe zu holen.

Wie sollten Lehrer damit umgehen, wenn sie Anzeichen von selbstverletzendem Verhalten wahrnehmen?

Lehrer sollten Ruhe bewahren, den Jugendlichen offen darauf ansprechen und weitere Hilfen initiieren. Bei oberflächlichen Schnittverletzungen, keiner Suizidgefährdung oder psychischen Erkrankung kann es ausreichen, zu beraten und wiederholte Gesprächskontakte anzubieten. Dies kann in der Schule durch die Schulsozialarbeiter oder einer Vertrauenslehrer stattfinden. Bei einer unklaren Situation mit wiederholt selbstverletzendem Verhalten oder Suizidgedanken müssen die Eltern informiert werden. Das selbstverletzende Verhalten sollte nicht Thema in der Klasse sein, um eine „Ansteckung“ zu verhindern. Viele betroffene Jugendliche berichten, dass sie erstmalig auf die Idee kamen, sich selbst zu verletzen, weil sie von den Selbstverletzungen einer Mitschülerin oder eines Mitschülers wussten.

Hilfsangebote

Beratungsstellen, Literatur, Informationsmöglichkeiten im Netz:

  • Psychologische Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, Arndtstraße 14, 02373/65428; beratungsstelle-menden@zfb-iserlohn.de, www.zfb-iserlohn.de;
  • Caritas Familien- und Erziehungsberatung, Kirchplatz 1a, 02373/959650, eb@caritas-menden.de, www.caritas-iserlohn.de;
  • Weiterführende Literatur: In-Albon, T., Plener, P.L., Brunner, R. & Kaess, M. (2015). Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Göttingen: Hogrefe.
  • Rote Linien - Kontakt- und Informationsforum für SVV-Angehörige: www.rotelinien.de
  • Klicksafe - EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz: Selbstverletzendes Verhalten online (auf Social-Media-Plattformen): www.klicksafe.de
  • Selbstverletztendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen - Informationen des Zentrums für Schulpsycholgie der Stadt Düsseldorf
  • Star-Projekt - Hilfe bei selbstverletzendem Verhalten:


www.star-projekt.de