Menden. . Stefan Schulte ist der bisher einzige Bundestagsabgeordnete aus Menden. Er zog 1983 für die Grünen in die damalige Hauptstadt Bonn (Teil 1).
Menden. Welche Gefühle durchleben Eltern, deren Sohn die Ansicht vertritt: „Der Einsatz für eine lebenswerte Umwelt ist mir wichtiger als das berufliche Fortkommen“? Vermutlich erst einmal Sorge, wohin das führen soll. So erging es Marianne und Fritz Schulte in den frühen 1980er Jahren in ihrem Heim im Obsthof. Sohn Stefan (Jahrgang 1957) war in Altena von der Kreismitgliederversammlung der noch jungen Grünen einstimmig als Bundestagskandidat nominiert worden und sollte sich am 6. März 1983 im Wahlkreis 122 zur Wahl stellen.
Mit 5,6 Prozent über die „Hürde“ gehüpft
Das Frappierende für die Eltern war die Erkenntnis, dass ihr 26 Jahre alter Sohn so weit vorn auf der Liste aufgestellt war, dass er unweigerlich nach Bonn aufbrechen musste, wenn die Grünen auch nur 5,1 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen konnten. Dass die Grünen sogar mit 5,6 Prozent über die 5 Prozent-Hürde „hüpften“, war umso schöner für Stefan Schulte. Der Biologie-Student unterbrach sein Studium in Göttingen und ging für vier Jahre an den Rhein in die damalige Bundeshauptstadt.
Ich kannte Fritz und Marianne Schulte und ihre Kinder. Fritz Schulte (1914-1999) war mein Lehrer in der Wilhelmschule und mein Mentor im Schachverein Menden 24. Natürlich waren sie stolz auf den Filius, der als einziger Junge und Stammhalter unter fünf Schwestern sowieso schon Hahn im Korbe war. Von einem lachenden und einem weinenden Auge sprachen sie, aber auch davon, dass sie ihn unterstützen würden, wo immer es ging.
1983 vom Obsthof an den Rhein gezogen
Es war eine höchst ungewöhnliche Reihenfolge: Noch bevor die Grünen 1989 in den Mendener Stadtrat einzogen, saßen sie bereits seit 1983 mit ihren Turnschuhen in Bonn am Rhein im 16-geschossigen „Hochhaus Tulpenfeld“. Im „Langen Eugen“, dem 115 Meter hohen Abgeordnetenhaus mit seinen 30 Etagen, war offenbar kein Platz für sie oder aber man wollte sie gern ein wenig ins Abseits drücken. Dabei hatte man aber wohl vergessen, dass im „Tulpenfeld“ auch die gesamte Presse untergebracht war…
Getagt aber wurde in der ehemaligen Pädagogischen Akademie, die als Bundeshaus diente. 10. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags. Und mit dabei bis 1987 der Mendener Stefan Schulte. Er erlebte die wohl spannendste Zeit der jungen Partei und ist bisher der einzige Mendener, der jemals im Deutschen Bundestag als Abgeordneter gesessen hat. Das wird auch über den Wahltermin September 2017 hinaus so bleiben und dürfte bei den heimischen Parteien die Frage nach dem „Warum sonst keiner aus Menden“ aufwerfen und in Menden die Suche nach hellen Köpfen verstärken. 30 Jahre sind eine lange Zeit.
Letztes MdB-Jahr im „Wasserwerk“ verbracht
Stefan Schulte kann von sich sagen, er habe zwei Plenarsäle erlebt, den alten, maroden im Akademiehaus und von 1986 bis 1987 den im alten „Wasserwerk“. Der eine schon eng, der andere noch enger. Am 5. Juni 1987 entschied sich der Deutsche Bundestag nach lebhafter Debatte mehrheitlich für den Abriss des alten Plenarsaals im Akademiehaus und einen Neubau. Nicht eingeplant weil nicht vorhersehbar war 1990 die Wiedervereinigung. Der Bundestag zog 2000 nach Berlin um.
Die Grünen hatten sich das Rotationsprinzip auserkoren. Ein Prinzip, das allerdings nur bis 1986 dauerte. Im Festbuch „25 Jahre Grüne Geschichte“ wird aufgebröselt, was man unter dieser Rotation zu verstehen hat. So sahen sich die Grünen als die Alternative zu den etablierten Parteien. Unter der Maßgabe „keine Macht für niemand“ rotierten deshalb in der Mitte der Legislatur alle Grünen-Abgeordneten. Ausnahmen waren Petra Kelly und ihr Freund Gert Bastian, die sich schlichtweg weigerten. Ziel war unter anderen, die Bildung des Berufspolitikertums zu verhindern bzw. zu erschweren.
Rotation machte alle Grünen gleichberechtigt
Vorrücker und Nachrücker bildeten eine Bürogemeinschaft. In der Fraktion galten die Nachrücker als gleichberechtigte und voll stimmberechtigte Mitglieder. Von ihren Diäten behielten die Bundestagsabgeordneten 1950 DM plus 500 DM für jede zu unterhaltende Person. Damit orientierte sich der Betrag am Facharbeiterlohn.
In der Auflistung der Mitglieder des Bundestags von 1983 bis 1985 wird Joschka Fischer, der spätere Außenminister, ebenso aufgeführt wie Otto Schily, der später zur SPD wechselte und Innenminister wurde. Aber noch nicht Stefan Schulte. Er steht von 1983-85 „erst“ in der Mitarbeiter- bzw. Nachrückerliste. Das änderte sich 1985, als er die Stelle von Eckhard Stratmann-Mertens einnahm, der dann in den Mitarbeiterstab rückte. Im Plenum saß der Mendener Stefan Schulte mit den 26 anderen Grünen-Abgeordneten zwischen den Blöcken von CDU und SPD.
Wohl kalkulierte Ungezogenheit
Grüne-Themen jener Zeit, die Stefan Schulte so hautnah mit erlebte und mit diskutierte, waren Abrüstung („Schwerter zu Pflugscharen“), die Anti-Atomkraft-Bewegung („Atomkraft?, nein Danke“), „Ist deutsche Politik käuflich?“ (Flick-Affäre), aber auch die Initiative gegen das Waldsterben. Dazu eine gehörige Portion Respektlosigkeit, die die Grünen im Bundestag selbst oder vor ihren Fernsehapparaten in den Fraktionsräumen miterlebten: Joschka Fischers parlamentarische Ungezogenheit 1984 gegen den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen, „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, ist unvergessen und schon legendär. Stefan Schulte sagte mir dazu, wie angespannt und auch amüsiert sie alle diesen offenbar wohl kalkulierten Satz von Joschka Fischer erlebt hatten. Fischer hat sich später förmlich entschuldigt. Das bundesweite Aufsehen im den Medien aber hatte er erst einmal.
Stefan Schulte engagierte sich gleich zu Anfang seiner Bonner Zeit, als er mit anderen in einen befristeten Hungerstreik für den Frieden trat, um damit an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki zu erinnern. „Eine Solidaritätsfrage,“ sagte er dazu. Nur Kaffee, Tee und klarer Sprudel. Nebenaspekt: fünf Kilogramm abgenommen.
Erste Rede 1985 mit Angriff auf Minister
Seine erste Rede im Bundestag hielt Stefan Schulte Ende Mai 1985 in der Aktuellen Stunde. Sein Thema waren die Tiefflieger: In Bayern war eine Kirche durch ein alliiertes Flugzeug zerstört worden und hatte daraufhin eine Kampagne gegen Tiefflieger entfacht. Schulte kritisierte Bundesverteidigungsminister Wörner, weil er keinen direkten Einfluss auf die Flughöhen genommen habe. Sein Vorwurf muss Wörner schon weh getan haben als Stefan Schulte wörtlich sagte: „Ist Ihnen tatsächlich die treue Gefolgschaft zu den Verbündeten mehr wert als der Schutz unserer Menschen vor infernalischem Lärm und Schaden an Bauwerken…?“
In Bonn war der „erste sauerländische Grüne im Bundestag“, wie er gern bezeichnet wurde, Mitglied im Innenausschuss und dort zuständig für die Luftreinhalte- und Energiepolitik, war auch stellvertretendes Mitglied im Verkehrsausschuss und zuständig für den Bundesfernstraßenbau.
Pikant: Aus Schwarz wurde schließlich Grün
Der politische Werdegang des Walram-Abiturienten Stefan Schulte war nicht ohne Pikanterie. Er war Mitglied der Jungen Union, engagierte sich aber auch in der Aktionsgemeinschaft für Umweltschutz im Märkischen Kreis (BNU), stellte sich gegen den Bau der A 46, gründete die Bürgeraktion „Sauerland-Stop-A 46“. Nicht unbedingt CDU-Themen. In der Jungen Union engagierte er sich zudem für den Kampf gegen die Atomkraft. In Mediengesprächen betonte er, in der Jungen Union und in der CDU sei ihm mit der Zeit klar geworden, dass er in dieser Partei kein offenes Ohr dafür finden würde. Er wechselte die Farben. Statt Schwarz nun Grün.
Erinnerungen als Buch
Die drei Bücher „So war es früher“ von Claus-Peter Levermann sind im Klartext-Verlag erschienen und im WP-Leserladen sowie im Buchhandel zu haben. Der Autor stiftet sein Honorar für jedes verkaufte Exemplar für die WP-Benefizaktion für „Mendener in Not“.
Zur inneren Wandlung gehörte außen der Bart
Er gründete 1981 zum zweiten Mal einen Ortsverband der Grünen in Menden, nachdem der erste Versuch von 1980 nach kurzer Zeit gescheitert war. Er sagt von sich selbst, in jungen Jahren eine Wandlung durchgemacht zu haben. Auch äußerlich hatte er sich verändert: Vollbart, längere Haare, Jeans und Parka, bestückt mit Buttons, im Garten ein Ökoteich mit seltenen Pflanzen. Insgesamt eine Lebenseinstellung, die durchaus zu Konflikten in der Familie führen konnte.
Vehement machte er zusammen mit Michael Kipper und Peter Greulich deutlich, wie das Waldsterben voranschritt. Bereits 17 Prozent der Wälder sei unheilbar krank.
Wie die Wälder noch heute den inzwischen 60-Jährigen auf Trab halten und wie er damals mit den Politgrößen Joschka Fischer und Otto Schily Fußball und Schach gespielt hat und wie er heute auf dem „elektrischen Stuhl“ sitzt, in Teil II.