Unter Donner und Blitz haben die Deutschen Meisterschaften im Schach 1974 auf der Wilhelmshöhe begonnen.

Menden. Unter Donner und Blitz haben die Deutschen Meisterschaften im Schach 1974 auf der Wilhelmshöhe begonnen. Während an jenem Freitag, 31. Mai, der Himmel grollte und seine Schleusen über der startbereiten Pfingstkirmes im Tal öffnete, entlud der Präsident des Deutschen Schachbundes, Ludwig Schneider aus München (1907-1975), im überfüllten kleinen Saal der „Höhe“ seinen Zorn über alle, die in den Wochen zuvor am Deutschen Schachbund und ihm persönlich kein gutes Haar gelassen, wegen Ludek Pachmann angegriffen und zum Teil mit beleidigenden Äußerungen und Unterstellungen bedacht hatten.

Für den Präsidentenwar das Maß voll

„Jetzt ist die Grenze überschritten“, wütete Schneider. „Ich muss sprechen“, sagte er vor Rundfunk und Fernsehen. Ihm war vorgeworfen worden, vor den Ostblock-Schachverbänden in die Knie gegangen zu sein, als er sich weigerte, den jetzt staatenlosen, emigrierten tschechischen Großmeister Ludek Pachmann (1924-2003) bei den nationalen Meisterschaften in Menden spielen zu lassen. „Unsere Bestimmungen lassen das nicht zu“, wehrte sich Schneider und zitierte die Turnierordnung: „Bei den nationalen Titelkämpfen dürfen nur Deutsche oder Ausländer, die seit mehr als fünf Jahren in der Bundesrepublik leben, teilnehmen.“

Was in Menden die Feierlichkeiten zur Eröffnung des bislang bedeutendsten Sportturniers in der Hönnestadt so verhagelte, waren – kaum zu glauben – Auswirkungen des „Prager Frühlings“ sechs Jahre vorher, den Mendener Jugendliche auf einer Fahrt des Jugendamtes mit Werner Bußmann am 1. Mai 1968 miterlebten, als sie mit Hundertau­senden durch Prag zogen und die neu gewonnene Freiheit des Landes feierten (siehe „So war es früher“ vom 8.10.16).

Großmeister inhaftiertund ausgeschlossen

Ob Ludek Pachmann sich an jenem Tag auf der Straße unter seinen Landsleuten befand, ist nicht bekannt. Aber er war Regime-Kritiker und wurde nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch 300 000 Soldaten des Warschauer Paktes nur wenige Monate später inhaftiert und für eineinhalb Jahre festgesetzt. Mit Schädelbruch und Rückgratverletzungen kehrte der Wortführer des Dubcek-Liberalismus aus der Haft zurück und wurde 1972 erneut inhaftiert. Partei und CSSR-Schachverband schlossen ihn aus. Ludek Pachmann war nicht irgendwer in der Tschechoslowakei. Er war Internationaler Großmeister (IGM), wies als einer von wenigen Schachgrößen gegen den genialen Bobby Fischer eine ausgeglichene Bilanz auf und war zwischenzeitlich die Nummer 14 in der Welt-Rangliste.

Der Weltschachbund (FIDE) erreichte, dass Pachmann in den Westen ausreisen durfte. Er ließ sich in Deutschland nieder und bewirkte ungewollt einen beispiellosen Ärger, der bis nach Menden überschwappte. Der Solinger Unternehmer und Schachmäzen Egon Evertz nahm ihn unter seine Fittiche. Pachmann verstärkte fortan neben IGM Robert Hübner und IGM Hecht die Solinger Schachgesellschaft und führte den Deutschen Abonnementsmeister beim zweiten Kampf in der Bundesliga gegen den Zwerg Schachverein Menden 24 zu einem knappen 5:3-Sieg.

Russischer Verbandließ Muskeln spielen

Das Gewitter über Menden war bis in den letzten Winkel der Schachwelt zu hören. In Solingen fand vom 7. bis 24. Juli 1974 zur 600 Jahr-Feier der Stadt ein phänomenal stark besetztes Großmeister-Turnier statt, das so genannte „100 000 DM-Turnier“, das sogar die Schach-Olympiade von Nizza übertraf. Daran sollte auch der nun staatenlose Ludek Pachmann als Solinger Spieler teilnehmen. Der russische Schachbund wollte das verhindern, zog kurzfristig die Zusage für Ex-Weltmeister Boris Spassky zurück. Auch Großmeister Wolfgang Uhlmann (DDR) drohte mit Abreise. Das Turnier drohte zu platzen. Egon Evertz blieb nichts anderes übrig, als Pachmann von der Starterliste zu streichen.

Der Streit war schon vorher zu einer offenen Eskalation verkommen. Ludek Pachmann wollte auch bei den Nationalen Meisterschaften in Menden (13.5. bis 15. Juni 1974) starten. Als der Deutsche Schachbund ablehnte, weil seine Bestimmungen das nicht zuließen, erfolgte das, was der Sport stets unter allen Umständen vermeiden will: die Einmischung der Politik.

Politik bedrängteDeutschen Schachbund

Die Massenmedien wüteten gegen die Machtansprüche der Russen im Schach. Organisationen stellten sich offen hinter den Prager Weltklassespieler. Die „Junge Union“ beschuldigte den Deutschen Schachbund der politischen Diskriminierung. Ähnlich äußerte sich der „Internationale Schutzverband deutschsprachiger Schriftsteller“ aus der Schweiz. Auch im Schachbund selbst gab es Stimmen für den achtmaligen Meister der CSSR.

Die politische Schmutzkampagne gegen den Schachbund und seinen Präsidenten ließen Ludwig Schneider voller Empörung reagieren: „Wir werden uns nicht scheuen, gerichtlich gegen die unzutreffenden polemischen Angriffe vorzugehen und alle rechtlichen Mittel wahrnehmen, um die Verunglimpfungen abzuwehren“, wetterte er.

Riesiger Andrangauf DM-Sonderstempel

Als Schneider abschließend das Turnier eröffnete, war das Majestätische des königlichen Spiels wie weggeblasen. Schneider wünschte den 36 Teilnehmern „möglichst viele Einsen und wenig Nullen“. Aber das zu registrieren, oblag dem Bundesspielleiter Helmut Nöttger, der auch die Auslosung der ersten von 15 Runden vornahm. Danach würden die jeweils Punktgleichen gegeneinander kämpfen.

Menden 24 als Ausrichter kam unversehens zu dem Glück, vier Teilnehmer in dem erlesenen Feld der Landesmeister zu stellen. Neben Ralph Mallee, Werner Nicolai und Hans-Werner Ackermann rutschte auch noch Rolf Hunold unter die 36, weil der Badenser Escher aus beruflichen Gründen kurzfristig absagen musste.

Arg ins Schwitzen gerieten am Eröffnungstag des Turniers die Mitarbeiter des Sonderpostamtes, die von den Briefmarkenliebhabern fast erdrückt wurden. Beim Postamt waren Sonderstempelwünsche aus allen Teilen der Welt eingetroffen. „Es reicht“, stöhnten die Mitarbeiter am Schalter.

Großen Saal noch nieso schön gesehen

Was Rang und Namen hatte in Politik und Gesellschaft nahm an dieser denkwürdigen Eröffnung teil. Fast schon erlösend friedlich die Auszeichnung für Josef Rosier (1904-1994), den Mitgründer und langjährigen Vorsitzenden von Menden 24. Er erhielt den Ehrenbrief des Schachbundes Nordrhein-Westfalen. Innenminister Willi Weyer als Schirmherr ließ Grüße ausrichten. Vor dem damaligen Kaufhaus Semer an der Hauptstraße (heute Rossmann) blitzten Schachsportler schon morgens für einen karitativen Zweck. 1000 Luftballons stiegen in den Himmel, versprachen schöne Preise für die weitesten Reisen.

Bürgermeister Max Schmitz (1899-1992) und Stadtdirektor Dr. Franz Rips (1914-1995) hatten schon gleich zu Anfang gelobt, den Großen Saal der Wilhelmshöhe noch nie zuvor so schön gesehen zu haben. Kein Wunder, hingen doch rund um das große Turnier-Rechteck die Landesfahnen der teilnehmenden Spieler, sorgte Blumenschmuck für Auflockerung.

Bundesländer liehenMenden ihre Fahnen

Da es in NRW keine Zentralstelle für Fahnen der Bundesländer gab, hatten die 24er die Städte, aus denen die Spieler kamen, gebeten, leihweise ihr Landesfahnen zur Verfügung zu stellen. So schickte zum Beispiel Bamberg die bayrische, Kiel die Fahne Schleswig-Holsteins und Göttingen die Niedersachsens.

Im Konzert der Großen schlugen sich die vier Mendener großartig. Davon und warum auf der Wilhelmshöhe das Licht nicht mehr ausging mehr in Teil VII.