Olpe. Sie ist 90 Jahre alt und erinnert sich genau, wie es war, als die Stadt Olpe 1945 bombardiert wurde. Nur aus einem Grund hat sie überlebt.
Alljährlich läuten in Olpe an jedem 28. März zwischen 10.54 und 11.07 Uhr alle Kirchenglocken. 13 Minuten lang stellen sie mit ihrem Klang die Zeitphase dar, in der am selben Tag 1945 britische Luftminen Tod und Verderben nach Olpe trugen. In diesem Jahr wird der Jahrestag in besonderem Rahmen begangen – mit zwei Jahren Verspätung wird der 75. Wiederkehr des Bombardements gedacht, das über 150 Menschen sofort und ungezählte in den folgenden Tagen und Wochen das Leben gekostet hat. Die Olper Feuerwehrmusik hat dazu ein besonderes Konzert vorbereitet (wir berichteten mehrfach), und in den Reihen der Zuhörer saß am Sonntag eine Frau, die genau weiß, wovon die Rede ist. Margret Schulte gehört zu den Menschen, die den Luftangriff miterlebt haben, und bis heute ist die 90-Jährige in der Lage, ihr Erleben ergreifend und mitreißend wiederzugeben.
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Sie wohnte damals, zwölf Jahre alt, mit ihrer Mutter und dem neun Jahre jüngeren Bruder im untersten Haus der Kolpingstraße, die damals „Maria-Theresia-Straße“ hieß. Der Vater war an der Front. „Meine Mutter hatte erfahren, dass es bei Fuchs Mehl oder Zucker gab“, so Margret Schulte. Die zwölfjährige Margret hatte keine Lust, auf den kleinen Bruder aufzupassen und schlug vor, dass sie den Einkauf im Lebensmittelgeschäft Fuchs an der Bahnhofstraße übernehme. „Ich bekam die Tasche mit den Lebensmittelmarken, die waren ja wichtiger als Geld, und bin in den Laden gegangen. Da war ein ziemliches Gedränge“, erinnert sich Margret Schulte. Was keiner wusste: In diesem Moment hatten britische Bomber einen wahren Teppich aus Bomben über der Stadt abgeworfen.
Den äußerst kurzfristig ausgelösten Sirenenalarm – eine Kabelstörung hatte eine frühere Alarmmeldung aus Siegen verhindert – hatte Margret Schulte gar nicht gehört. Er ging in den ersten Detonationen unter. „Es gab einen unglaublichen Knall, einen Schlag, und dann kam alles ‘runtergefallen. Um mich herum ein Schreien, Stöhnen, Tod.“
Als der dichte Staub sich verzog, ihr Atem allmählich wieder einsetzte, realisierte die Zwölfjährige, dass sie als einzige im Laden noch lebte. „Alle anderen hatten, wie wir es eigentlich gelernt hatten, auf den Boden geworfen. Ich war stocksteif stehengeblieben, ich hatte eine angeborene Abneigung gegen Schmutz und wollte mich nicht auf den dreckigen Boden legen“, so Margret Schulte im Rückblick. „Ich stand dann aber bis zur Brust im Schutt. Alle anderen lagen darunter.“ Wie sie sich aus den Trümmern befreit hat, weiß sie nicht mehr, nur: „Meine Schuhe blieben stecken.“ Durch ein geborstenes Schaufenster gelangte sie auf die Bahnhofstraße. Es sei zunächst totenstill gewesen, auch sei kein lebender Mensch zu sehen gewesen. Sie wollte nach Hause, jedoch: „Die komplette Kurfürst-Heinrich-Straße brannte. Ohne Schuhe konnte ich da nicht herlaufen.
Durch die Trümmer getragen
Dann entdeckte ich auf der anderen Straßenseite, bei Holterhoffs, einen Mann.“ Dieser rief der kleinen Margret zu, sie solle sich rasch in den Bunker unter der Martinuskirche begeben. „Wie ich da hingekommen bin, weiß ich nicht. Meine Mutter hat später gefolgert, dass ich durch den Olpebach gelaufen sein muss, weil meine Strümpfe bis zu den Knien nass waren.“ Der Bunker im Weierhohl – der Eingang ist heute noch zu sehen – bot dem Mädchen zunächst Schutz, „dann kamen von überall her Helfer mit Tragen, Verwundete lagen darauf, schrien, das Weierhohl brannte.“ Eine Bekannte ihrer Eltern erkannte das Kind und brachte es zum größeren Bunker im weiteren Verlauf des Weierhohls – auch er ist noch komplett erhalten. Eine Freundin der Familie übernahm hier Margret Schulte und rief einen Helfer herbei: „Vielleicht war er Soldat, ich weiß es nicht genau, aber er hatte irgendeine Uniform an.“
Der junge Mann nahm die Zwölfjährige auf den Arm und trug das ohne schützendes Schuhwerk hilflose Mädchen über brennende Trümmer und Scherben bis zur Josefstraße, „ab da konnte ich laufen und bin nach Hause. Da war niemand, und mir war klar: Die können nur im Bunker sein.“ Die kleine Familie hatte in den vergangenen Wochen, als immer wieder Fliegeralarm ausgelöst worden war, den Gang zum Bunker im Stötchen regelrecht trainiert. Auch dieser, vom Gelände der damaligen Baufirma Köster & Co. in den Berg getriebene, Schutzbau existiert noch. „Aber auch hier war meine Mutter nicht.“ Denn diese hatte sich nach dem Abklingen des Bombardements sofort in Richtung Bahnhofstraße begeben, um ihre Tochter zu suchen, den kleinen Sohn in der Obhut von Freunden im Stötchen-Bunker zurücklassend. Beim zerstörten Lebensmittelhandel Fuchs hatte ihr eine Bekannte niederschmetternde Auskunft gegeben: „Deine Tochter war bei Fuchs? Dann geh nach Hause. Da ist keiner mehr rausgekommen.“ Als sie ihre Tochter dann weder auf dem Aufbahrungsplatz noch im Lazarett gefunden hatte, war die Mutter weinend zum Bunker zurückgekehrt, um ihren kleinen Sohn abzuholen und konnte ihr Glück nicht fassen, als sie dort ihr komplett von Schutt und Staub bedecktes, aber gesundes Kind in ihre Arme schließen konnte. „Mama, ich habe keine Schuhe mehr“ sei das einzige gewesen, was sie hätte sagen können, erinnert sich Margret Schulte.
Kriegsende in Ennest erlebt
Die eigene Wohnung war beim Bombardement leidlich davongekommen. Der Druck der Detonationen hatte die Fenster zertrümmert, die kleine Familie verließ vorübergehend die Kreisstadt. Über eine Station bei der Großmutter in Attendorn – „da brannte auch noch alles, die waren ja fast gleichzeitig bombardiert worden“ – ging es zu Verwandten nach Ennest, wo die Schultes so lange blieben, bis die Amerikaner einmarschierten und die Kriegsgräuel vorbei waren. Hier wurde sie Zeuge, wie ein französischer Fremdarbeiter, den die Familie stets gut behandelt hatte, sich revanchierte und freigelassene Insassen des sogenannten „Russenlagers“ vom Plündern des Hofs abhielt.
Der Vater kam Ende 1945 aus Kriegsgefangenschaft zurück: Er hatte das Glück, aus der Sowjetunion in die Niederlande gebracht worden zu sein. Der 28. März wird von Margret Schulte alljährlich als ihr zweiter Geburtstag gefeiert. Körperlich hat sie das Bombardement bis auf Kratzer und Schürfwunden unverletzt überstanden. Die Erinnerungen aber haben sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. „Wenn die Glocken läuten, dann wird mir immer ganz seltsam“, berichtet sie. Und als vor etwas mehr als einem Jahr die Bilder aus bombardierten Städten in der Ukraine auf dem Fernsehbild erschienen, „da musste ich weggucken, da bin ich erstmal an die Luft und habe tief eingeatmet.“