Olpe/Rhode. Das Stadtarchiv Olpe ist um ein Exponat reicher, das für die Sammlung von großem Wert ist. Jahrzehnte lag es auf einem Dachboden.
Es ist ein leerer Koffer. Und doch ist er auf eine besondere Art voll bis zum Rand – gefüllt mit Geschichte. Der vom Zahn der Zeit sichtlich gezeichnete Überseekoffer, den Ruth-Maria Schmelzer und ihre Tante Maria Becker jetzt ins Olper Stadtarchiv brachten, ist zum einen ein schönes Museumsstück, ein Gegenstand, der schon aufgrund seines Alters und seines originalen Erhaltungszustands in jedes Museum passt. Dieser Koffer hier aber ist viel mehr. Denn er spiegelt ein Stück Historie wider, die in der Museumssammlung des Olper Stadtarchivs bisher nicht belegt war.
„Nestor Fink“ steht in sauberen Buchstaben auf die eine Seite des erstaunlich leichten Koffers geschrieben, dessen Schließen mit „D.R.P.“ für „Deutsches Reichspatent“ gekennzeichnet sind. Dieser Name wiederholt sich auf der anderen Seite, ergänzt mit „via Lisboa“, wie die portugiesische Hauptstadt Lissabon in der Landessprache heißt. Die Oberseite ist mit „RdJ“ gezeichnet, die Abkürzung von „Rio de Janeiro“, und dies gibt einen Hinweis auf den Eigentümer des Koffers.
Budapester Schnürung
Ruth-Maria Schmelzer kennt den Koffer, seit sie ein Kind war. Denn wenn sie im großelterlichen Haus in Rhode spielte, dann war dieser Koffer auf dem Dachboden ein geheimnisvolles Relikt der Vergangenheit. Doch viel mehr als dass es der Koffer eben von einem Herrn namens Nestor Fink war, erfuhr die kleine Ruth nicht. Erst viel später wurde ihr erzählt, dass dies ein Mann war, der im Jahr 1944 einige Wochen auf dem Dachboden des Hauses Huppertz versteckt worden war: Fink war Halbjude und verbarg sich dort vor den Nazis. Maria Becker geb. Huppertz erinnert sich sogar noch an den eleganten Mann mit den zweifarbigen Schuhen mit Budapester Schnürung und einem goldenen Ring am kleinen Finger. Er kam erst abends vom Dachboden herunter, um im Schutz der Dunkelheit am Tisch mit ihren Eltern Karl und Hulda Huppertz das Abendbrot zu essen. „Mittags wurde ihm Essen hochgebracht“, erinnert sich Maria Becker, die noch die stählerne Bettstatt auf dem Dachboden vor Augen hat.
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Nestor Fink verließ den Schutz der Familie Huppertz, als ein Verwandter der Familie gedroht hatte, sie zu verraten. Er wolle zurück „zu seinen Wurzeln“, hatte er dem Ehepaar Huppertz noch gesagt, bevor er ging. Einige Tage später folgte ein letztes Lebenszeichen: Von Frankfurt aus rief Nestor Fink die Rhoder Poststelle an und sprach mit Hulda Huppertz: Er versuche, außer Landes zu kommen. Er bat darum, den Koffer noch sechs Monate aufzuheben. Sollte er ihn binnen dieser Zeit nicht holen lassen, dann solle er der Familie gehören. „Viel war nicht im Koffer“, erinnert sich Maria Becker. Ein Wintermantel wurde nach dem Krieg zu einem Kleid umgenäht, ein versilbertes Fischbesteck wird in der Familie als Andenken bewahrt, eine Kamera ist nicht mehr aufzufinden.
1898 in Vitória geboren
Erst lange nach dem Krieg erfuhr Maria Becker von ihren Eltern, dass der geheimnisvolle Mann Jude war. „Da wurde nie drüber gesprochen“, erinnert sie sich. Als Ruth-Maria Schmelzer irgendwann realisierte, welche Geschichte hinter dem Koffer steckte, begann sie zu forschen. Doch der Name „Nestor Fink“ brachte nicht viele Ergebnisse. Das Deutsche Rote Kreuz wusste, dass er am 21. August 1898 in Vitória, der Hauptstadt des Bundesstaats Espirito Santo in Brasilien, geboren worden war, seit dem 1. September 1939 in Köln gemeldet und von Beruf Kaufmann. Beim DRK war das letzte Lebenszeichen vom Juli 1944 aus Hamm in Westfalen notiert, einem Zeitpunkt, der vor der Ankunft in Rhode liegt.
Doch dann kam Corona, und die Stillstandsphase nutzte Ruth Schmelzer für weitere Recherchen. Und da stieß sie auf eine Firma Henry Fink in Köln, deren Geschäftsführer Nestor Fink war. Im Bundesarchiv in Berlin brachte sie in Erfahrung, dass diese Firma mit Polstermöbeln handelte. Nestor wie seine drei Schwestern wurden in Vitória geboren, Nestor Fink war 1926 in die USA ausgewandert, hatte aber 1931 nach dem Tod des Vaters dessen Kölner Firma übernommen. Seine Adresse wechselte nach 1942 oft, als die Repressalien der Nazis auch gegen Juden mit ausländischem Pass härter wurden. Beim Amtsgericht Köln findet sich die Notiz, dass Nestor Fink im September 1944 an einer Blinddarmentzündung in Bonn gestorben sei. In der ehemaligen Bundeshauptstadt gibt es beim Standesamt jedoch keinen Eintrag, der das belegt.
Ruth-Maria Schmelzer hat die Geschichte aufgeschrieben, sie wird im nächsten Jahrbuch des Heimatvereins veröffentlicht. Eigentümerin des Koffers war Maria Beckers Tochter Eva, die sich entschloss, das Stück dem Stadtarchiv als Schenkung zu überlassen.