Kreis Olpe/Dahl. Interview mit Elmar Stracke aus Olpe-Dahl. Der 29-Jährige kennt Russland durch ein Studium in St. Petersburg und viele Aufenthalte.

Außenministerin Anna-Lena Baerbock kreuzt die Klingen mit Sergej Lawrov, die Ukraine-Krise ist brenzlig, Nordstream II wird kontrovers diskutiert und mitten drin Wladimir Putin. Russland ist in aller Munde. Was aber hat das alles mit dem russischen Volk zu tun, mit dem ,Mann auf der Straße’? Verstellen traditionelle Vorurteile den Blick auf ein friedliches, vielleicht sogar freundliches Miteinander zwischen Lissabon und Wladiwostok? Licht ins Dunkel kann ein „Dahler Junge“ bringen: Elmar Stracke hat die ersten sprachlichen Gehversuche in Russisch auf dem St. Franziskus-Gymnasium in Olpe gemacht, war anschließend nicht nur Student in St. Petersburg und häufiger Gast in Russland, sondern u. a. Vorsitzender der Deutsch-Russischen Jugendinitiative DRJUG, bis 2021 Präsident der Außen- und Europapolitik-Denkfabrik Polis 180 und 2016 Mitorganisator der internationalen Chor-Olympiade in Sotschi, mit rund 10.000 Teilnehmern aus 80 Ländern. Uns gab er ein Interview.

Herr Stracke, was hat Ihr Feuer für Russland entfacht?

Elmar Stracke: Es begann mit dem Russischunterricht am St. Franziskus-Gymnasium Olpe und dem darauf folgenden Schüleraustausch mit einer Schule in St. Petersburg. Mit der dortigen Gastfamilie bin ich bis heute in engem Kontakt. Später habe ich noch ein halbes Jahr in St. Petersburg gelebt und gemerkt: Die Menschen sind wirklich toll. Und dieses Gefühl ist bis heute geblieben.

Welche Regionen dieses Riesenreiches haben Sie kennengelernt?

Hinter dem Ural nur die großen Städte Tomsk und Tjumen im Westen Sibiriens, diesseits des Ural bin ich mehr herumgekommen. Nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern von Wyborg im Norden über Kasan im Osten bis nach Sotschi und Wolgograd im Süden.

Können Sie drei hervorstechende Wesenszüge nennen, die prägend für die russische Mentalität sind?

Herzlichkeit. Gastfreundschaft. Und persönliche Aufmerksamkeit in dem Sinne, sich auf einen Gesprächspartner einzulassen und ihm Zeit zu widmen.

Wie lange benötigt man, um richtig gut russisch zu lernen?

Wenn man in einem russischen Wohnheim zusammen mit zwei Russen in einem Zimmer wohnt, geht es erheblich schneller als ohne diesen täglichen Umgang. Aber es dauert schon einige Jahre.

Aktuell ist das Aufeinandertreffen der neuen deutschen Außenministerin Baerbock mit dem russischen Chefdiplomaten Sergej Lawrow hier in aller Munde. Wie wird Deutschland aktuell in Russland wahrgenommen?

Der Besuch von Anna Lena Baerbock in Moskau ist in Russland anders als in Deutschland kein großes Thema. Denn sowohl aus Sicht der russischen Politik als auch großer Teile der russischen Gesellschaft spielen Deutschland und Europa in diesem Konflikten keine entscheidende Rolle. Der wesentliche Ansprechpartner ist die USA. Es wird dort als nett empfunden, dass Frau Baerbock da war, in einem russischen Zeitungsartikel tauchte sie aber nicht einmal in der Überschrift auf, es hieß nur: Gäste kommen zu Lawrow.

Die Ukraine-Krise, Nordstream II und der Nawalny-Skandal bestimmen in Deutschland im Wesentlichen das Bild Russlands. Wie bewerten Sie diese politischen Minenfelder zwischen Russland und Westeuropa?

Der Begriff Minenfelder trifft es ganz gut. Die deutschen Positionen gegenüber Russland sind stark polarisiert. Die einen wollen die harte Linie, andere bringen sehr viel Verständnis für die russische Position auf. Die Wahrheit liegt wie immer eher in der Mitte. Wir dürfen nicht verkennen, dass es um starke innerrussische Konflikte geht. Die Drohgebärden der russischen Regierung im Ukrainekonflikt sollen zeigen: Wir sind handlungsfähig, wir geben das Tempo in der Welt vor. Das soll Führungsqualität zeigen, die in der Coronakrise gefehlt hat und durch die es einen erheblichen Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung gab.

Also ein Nebenkriegsschauplatz, um beim eigenen Volk Punkte zu machen?

Es ist die Strategie, mit Außenpolitik von Innenpolitik abzulenken.

Wie groß ist die Gefahr, in Prozent ausgedrückt, dass es an der ukrainischen Grenze eskaliert?

Die Wahrscheinlichkeit, dass es dort wirklich einen großen bewaffneten Konflikt gibt, liegt aus meiner Sicht bei etwa zehn Prozent. Das ist mehr als gar nichts, aber beide Seiten wissen, dass der Preis dafür sehr teuer sein würde.

Was denkt das russische Volk darüber?

Jedenfalls nicht, dass es eine tolle Idee wäre.

In Deutschland wird Russland zu Unrecht automatisch mit Putin in Verbindung gebracht.

Russland ist mehr als Wladimir Putin. Die russische Bevölkerung ist zum größten Teil kritisch gegenüber Putin eingestellt, hat aber, anders als vielleicht die Franzosen, nicht die Neigung, sofort auf die Straße zu gehen. Aber es gab Anfang des Jahres große Proteste, die gewaltsam in Schach gehalten wurden. Der Punkt im Ukraine-Konflikt ist, dass es einen Teil der russischen Bevölkerung gibt, der ein Sowjet-Imperium zurück haben möchte. Es gibt aber viele Russen, die Verwandte in der Ukraine haben, und die sie nicht mehr sehen können, weil sie auf der anderen Seite des Flusses leben. Die sind überhaupt nicht begeistert. Und viele junge Menschen verstehen gar nicht, was der Zirkus soll, weil sie mit der Ukraine nichts mehr zu tun haben. Sie denken: Ist das jetzt gerade unser großes Problem, das wir lösen müssen? Und die Antwort lautet: Nein.

Wladimir Putin ist für viele westeuropäische Medien der Teufel in Menschengestalt. Aber die Russen wählen ihn mehrheitlich. Warum? Oder sind die Wahlergebnisse alle gefälscht?

Ich glaube schon, dass es Wahlfälschungen gibt, aber nicht, dass Putin sie in Auftrag gibt, sondern, dass es sich eher um vorauseilenden Gehorsam von regionalen Politfunktionären handelt. Die Mehrheit der Menschen wählt ihn, weil er Stabilität bietet und, das darf man wirklich nicht unterschätzen, weil er es geschafft hat, dass Russland wieder international als eine Großmacht anerkannt wird.

Ein Putin also für Ewigkeit?

Es gibt Frotzeleien bis hin zu ernsten Prognosen in Russland, dass Putin den Kreml nicht lebend verlassen wird. Entweder, weil er im Amt verstirbt oder einem Anschlag zum Opfer fällt. Es ist auch kein Nachfolger in Sicht. Putin isoliert sich zunehmend, und es besteht die Gefahr, dass er nur noch auf einen kleinen Beraterkreis hört, was die Sichtweise verengt. Bis hin zum Realitätsverlust.

Wie wird Russland nach Putin sein?

Das ist die Gretchenfrage. In Russland ist die politische Teilnahmslosigkeit stärker ausgeprägt als bei uns. Der unausgesprochene Deal lautet: Ihr, also die Politik, stört uns nicht, und wir lassen euch in Ruhe. Ihr macht euer Ding, wir führen unser Geschäft. Es ist jedenfalls nicht klar, dass es nach Putin besser wird. Nicht für die russische Bevölkerung und auch nicht für Europa und die Welt. Die zweiten Reihe des Teams Putin, wenn man von so etwas sprechen kann, besteht ganz bestimmt nicht aus lupenreinen Demokraten nach westlichem Vorbild. Deshalb halten sich viele zurück, sich das Ende von Putin herbeizusehnen, weil die Zukunft danach extrem ungewiss sein dürfte.

Gibt es in Russland ein oder zwei Hoffnungsträger, die hier noch niemand auf dem Schirm hat?

Ich kenne sie nicht. Einer war vielleicht Nawalny. Aber man muss festhalten, dass Nawalny aus unserer Sicht ein handfester Nationalist ist. Da er Putins Feind ist, ist er für manche unser Freund. Aber grundsätzlich zeichnet sich nicht ab, an wen diese Macht geht. Medwedews Stern ist auch verblasst. Ich denke, es wird eine kurze, heftige Rangelei um das Erbe geben.

Russland hat eine große, gewaltsame und eine unblutige Revolution hinter sich. Kommt da eine dritte?

Ich weiß es nicht. Es gibt ein großes Bedürfnis vieler Menschen, in einem anderen Russland leben zu wollen. Aber der Polizei- und Militärapparat ist enorm stark. Die Zivilgesellschaft hat nur eine Chance zur grundlegenden Reform, wenn Militär und Polizei mitspielen.

Wäre es nicht überfällig, freundschaftliche Bande zum normalen Volk zu knüpfen, ähnlich wie Deutschland es mit Frankreich gelungen ist?

Es gibt ja zum Beispiel Städtepartnerschaften, die auch gepflegt werden. Es gibt sogar einmal im Jahr die deutsch-russische Städtepartnerschaftskonferenz, an der ich schon teilgenommen habe. Diese Initiativen haben aber ein Nachwuchsproblem. Der Austausch auf zivilgesellschaftlicher und jugendpolitischer Ebene ist durch Corona noch einmal viel schwieriger geworden.

Warum?

Weil wir nicht mit Sputnik und die Russen nicht mit Biontech geimpft sind und das gegenseitig nicht anerkannt wird.

Halten Sie eine Städtepartnerschaft zwischen Olpe und einer vergleichbaren Stadt, sagen wir bei St. Petersburg, für realistisch?

Auf jeden Fall. Aber solche Partnerschaften stehen und fallen mit Menschen, die sich konkret dafür engagieren. Ich halte das für sehr, sehr wünschenswert. Begrüßenswert in diesem Zusammenhang ist der im Koalitionsvertrag festgeschriebene Wegfall der Visumspflicht für den Jugendaustausch. Das ist großartig. Wenn man in Russland 500 Kilometer weit weg vom nächsten Konsulat lebt, lähmt das nämlich jeden Jugendaustausch. Förderlich wäre es auch, in Deutschland mehr Russisch zu unterrichten.

Sie waren 2016 am Management der Chorolympiade in Sotschi beteiligt. Der Kreis Olpe ist bekanntlich eine Hochburg des Chorgesangs. Da böte sich doch eine Chorfreundschaft geradezu an?

Auf jeden Fall. Von russischer Seite gäbe es da großes Interesse. Der Chorgesang ist in Russland auch für jüngere Menschen richtig sexy. Da passiert richtig viel. Man muss nur die Initiative ergreifen. Es gibt auch Fördermöglichkeiten, um Barrieren abzubauen.

Eine bessere Möglichkeit, Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen, gibt es wohl kaum.

Dem würde ich zustimmen.

Zur Person

Elmar Stracke (29) ist in Olpe-Dahl aufgewachsen, hat nach dem Abitur (St. Franziskus-Gymnasium Olpe) in St. Petersburg, Bayreuth, Mailand und London studiert, besitzt einen Bachelor in Philosophie und Volkswirtschaft sowie den Master in Europäischer Sozialpolitik. Er lebt in Berlin und ist seit zwei Jahren wissenschaftlicher Referent im Bundestag, seit der Bundestagswahl arbeitet er für SPD-MdB Markus Hümpfer (Schweinfurt).