Kreis Olpe/Eichhagen. Psychologin Teresa Sievert macht im Interview deutlich, wie sich Corona und die Einschränkungen psychisch bemerkbar machen können.

Dass das Coronavirus im Körper des Menschen verheerenden Schaden anrichten kann, ist erwiesen. Wie aber steht es um die Psyche einer Gesellschaft, die seit einem Jahr in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt ist? Urlaub light oder gar nicht, Kneipen adieu, Schule mal ja, mal nicht, kein Sport mit anderen, dazu Kurzarbeit, Angst um die Existenz und so weiter. Und die große Politik schlingert von einem Lockdown-Beschluss zum nächsten. Wie es um unser Seelenheil bestellt ist, fragten wir Expertin Teresa Sievert aus Olpe-Eichhagen, seit vielen Jahren selbstständige Psychotherapeutin.

Frau Sievert, wie viel Prozent ihrer Arbeitskraft verwenden Sie momentan wegen psychischen Corona-Folgen auf die Menschen der Region?

Teresa Sievert: Zeitlich ist das kaum zu beziffern. Wir bemerken eine inhaltliche Verschiebung. Die äußeren Ressourcen der Menschen schwinden.

Was bedeutet der Begriff ,Äußere Ressourcen’?

Ressourcen sind Kraftquellen, Säulen der psychischen Gesundheit. Mit äußeren Ressourcen meine ich Kontakte zu Freunden und Bekannten, Rückhalt in der Familie, aber auch ganz existenzielle Dinge wie eine sichere Arbeitsstelle, ein geregeltes Einkommen, Tagesstruktur. Wenn diese Dinge wegbrechen, wird es noch wichtiger, Zugang zu inneren Ressourcen zu finden. Das wären dann alle unsere Stärken, die uns in Krisen helfen können, wie Humor, Gelassenheit, Mitgefühl, Spiritualität zum Beispiel, oder eben auch Erfahrungen mit früheren Belastungen. Wir müssen in der therapeutischen Arbeit viel mehr an der Aktivierung von Ressourcen arbeiten, mehr stabilisieren, können weniger konfrontieren.

Wie alt oder jung sind ihre Klienten?

Ab 18, nach oben offen. Wenn jemand noch einigermaßen hören und sich verständigen kann, gibt es keinen Hinderungsgrund.

Wie alt war ihr bisher ältester Klient?

Ende 70. Es ist ein Vorurteil, dass ältere Menschen von Psychotherapie nicht mehr profitieren. Es ist sogar sehr wichtig, dass psychische Erkrankungen bei älteren Menschen als solche erkannt und nicht fälschlicherweise als zwangsläufige Begleiterscheinung des Älterwerdens gesehen werden. Die Hemmschwelle, sich in Therapie zu begeben ist oft größer als bei jüngeren Menschen. Aber wenn der Schritt einmal getan ist, ist die Fähigkeit, sich zu entwickeln, meines Erachtens nicht kleiner als bei den Jungen.

Welche Altersgruppen sind psychisch besonders beeinträchtigt?

Das ist quer gestreut. Besonders betroffen sind unter unseren Patienten Menschen, unabhängig vom Alter, die nicht in Familien eingebunden sind. Die allein leben. Und zu Hause eben nicht die Gelegenheit haben, über ihre Erlebnisse und Probleme zu reden. Sehr belastet, auf andere Weise, sind auch Familien mit kleinen Kindern und Schulkindern, die Homeschooling bzw. Betreuung und Home-Office verbinden müssen und natürlich alle, bei denen die Einkommensquelle wegbricht und die vielleicht noch nicht mal eine Perspektive haben.

Welches sind die gravierendsten Auswirkungen von Corona?

Aus meiner Sicht der fehlende direkte Kontakt. Wir sind soziale Wesen. Unser Nervensystem ist so aufgebaut, dass wir Bindung benötigen, um uns selbst zu regulieren, das heißt, mit Stress umzugehen, von unseren Emotionen nicht überwältigt zu werden. Bei Kindern ist das offensichtlich, dass sie Kontakt brauchen, auch körperliche Nähe der Bezugspersonen, um Stress zu bewältigen. Aber auch wir Erwachsenen können uns nicht so autonom, also aus uns selbst heraus regulieren, wie wir vielleicht glauben. Wenn Sie sich an ihren Biologieunterricht erinnern, an das autonome Nervensystem, an Sympaticus und Parasympaticus, und dort eben auch an die Mechanismen für unsere Entspannung. Ein Teil des Parasympaticus kann als soziales Nervensystem bezeichnet werden.

Können Sie das detaillierter erklären?

Dieser Teil, den ich als soziales Nervensystem bezeichne, ist beispielsweise für unsere Mimik zuständig, für Bindung. Und wenn dieser Teil aktiviert ist, können wir uns besser regulieren. Wir sind von unserem Nervensystem her so ausgerichtet, dass wir Kontakt brauchen. Auch die direkte menschliche Nähe fehlt, Berührungen, sich zu umarmen, sich gegenseitig zu drücken. Das sind elementar wichtige Dinge. Und das macht die Situation in den Krankenhäusern und Seniorenhäusern so schwer erträglich. Wenn Menschen alleine sterben, ohne all das, das ist schwer zu ertragen. Für alle.

Wer viel mit Menschen zu tun hat, wie beispielsweise auch wir Journalisten, verspürt derzeit eine wachsende Dünnhäutigkeit. Wie weit hängt das mit Corona zusammen?

Abgesehen von den stark eingeschränkten Kontakten sehe ich das in dem Verlust von Kontrolle, den wir erleben. Das Gefühl, wenig ändern zu können, ausgeliefert zu sein, und zwar auf nicht absehbare Zeit, stresst enorm und macht reizbarer. Außerdem ist es viel schwieriger, Ausgleich zu schaffen zu beruflichem oder sonstigem Stress, etwa durch Treffen mit netten Menschen, Sport, Urlaub, Ausflüge. Die Verhaltenstherapeuten sprechen von ,Verstärkern’, die fehlen.

Was ist damit gemeint?

Die kleinen Belohnungen, die wir uns gönnen und die wir auch benötigen. Ob es der Gang ins Café ist, der Kinobesuch oder die Shoppingtour. Ein ganz simples Beispiel: Vor kurzem kam hier in Eichhagen erstmals ein Brötchen-Lieferdienst vorbei, und es fiel auf, wie sehr die Menschen auf so etwas gewartet hatten, sofort auf die Straße strömten. Man hatte fast den Eindruck, dass plötzlich das ganze Dorf auf den Beinen war. An solchen Beispielen merkt man, wie ausgehungert die Menschen sind, und zwar nicht nach Brötchen.

Was, glauben Sie, ist für unser Seelenheil das Wichtigste: Urlaub, Kneipe oder, Shoppen?

Wenn ich mit Menschen darüber spreche, wonach sie sich sehnen, höre ich selten, dass das Einkaufen an sich, also der Konsum, fehle. An erster Stelle dürfte der Urlaub stehen. Raus zu kommen, etwas anderes zu erleben. Danach gibt es eine spürbare Sehnsucht. Die Menschen sind auch müde, immer nur von Corona zu hören oder zu lesen. Beim Shoppen geht es den Menschen gar nicht vordringlich darum, etwas Bestimmtes zu kaufen, sondern es geht darum, andere Gesichter zu sehen. Das Erlebnis ist wichtig, nicht das Kaufen selbst.

Wie wirkt sich Kontaktarmut, schlimmstenfalls Einsamkeit aus?

Wir werden stressanfälliger, reizbarer und geraten, wenn eine Anfälligkeit besteht, in eine Depression. Dann zieht man sich vielleicht resigniert sogar innerlich und äußerlich von den Kontakten zurück, die zugänglich wären.

Wie steht es um Familien, beispielsweise um gestresste Home-Office-Arbeiter?

Mein Eindruck ist, dass Familie vieles eher auffangen können. Singles, beispielsweise verwitwete und allein Lebende, trifft es eher. Diese Menschen sind dann wirklich alleine und spüren das auch. Stellen Sie sich vor, wir haben Menschen vor der Pandemie motiviert, zur Trauergruppe zu gehen, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Sie haben vielleicht mühsam ein gewisses soziales Netz aufgebaut. Und dann kann das alles nicht mehr stattfinden. Und Treffen am Bildschirm, via Zoom, sind kein Ersatz.

Macht Corona ihre Arbeit schwieriger?

Ja, auf jeden Fall. In der Therapie geht es immer einerseits darum, zu stabilisieren, Ressourcen zu aktivieren und andererseits, Probleme zu bearbeiten. Wenn jemand seinen Sport nicht machen kann, die Kontakte und Gesprächspartner wegbrechen, dann steht ihm sprichwörtlich das Wasser bis zum Hals. In solchen Fällen müssen wir vermeiden, durch zu starke Problemorientierung noch Wellen zu schlagen, die denjenigen untergehen lassen würden. Es gilt dann, sehr behutsam einzuwirken, innere Reserven zu finden und zu stärken.

Ist Corona eine Zeit, in der Menschen schneller zu Medikamenten greifen oder zum Alkohol?

Es gibt Menschen, die in solchen Zeiten rückfällig werden, einer vorher kontrollierten Sucht wieder nachgeben. Das müssen nicht unbedingt Medikamente sein. Das kann auch Kaufsucht oder Ess-Sucht sein. Es geht um Verstärker zur Selbstregulation. Wenn während Corona die bereits erwähnten Verstärker wegfallen, müssen andere her.

Womit haben Sie zu tun?

In erster Linie mit den Folgen der bereits beschriebenen Kontaktarmut. Manche Menschen ziehen sich dann noch mehr zurück, die eigene Energie wird weniger, was wiederum Einsamkeit fördert.

Haben Sie Ratschläge, worauf Menschen besonders achten sollten? Was kann jeder tun, um sich vor Corona-Schwermut oder ähnlichen Nöte zu schützen?

Bewegung, egal ob Waldspaziergang oder Online-Yoga. Kontakte trotzdem pflegen, soweit möglich, über Telefon, draußen treffen etc.. Sich für andere interessieren und anderen helfen, kann die Stimmung verbessern und wieder ein Gefühl herstellen, etwas tun zu können. Etwas Neues lernen, das man sonst vielleicht nicht gemacht hätte, z. B. eine Sprache, ein Instrument. Da geht heute ja vieles online. Und die Beschäftigung mit Corona begrenzen, sich auch mit anderen Inhalten beschäftigen.

Gibt es einen Geschlechterunterschied? Leiden Frauen psychisch mehr unter Corona als Männer oder umgekehrt?

Zu meinem Klientel gehören grundsätzlich mehr Frauen als Männer, auch bereits vor Corona.

In welchem Verhältnis?

Geschätzt etwa 70 zu 30 Prozent.

Woran liegt das?

Frauen gestehen sich psychische Probleme eher ein. Das ist ein bekanntes Phänomen, gilt nicht nur für unsere Region.

Hat die Politik in Sachen Corona-Politik die Psychologen als beratende Branche vergessen?

Ich glaube, unsere Branche war unterrepräsentiert. Ohne, dass ich die gefällten Maßnahmen kritisieren möchte. Aber es ist klar, dass psychische Probleme wegen der Corona-Beschränkungen spürbar häufiger und stärker auftreten. Da wäre die Expertise der Psychologie hilfreich gewesen.

Sind wir grundsätzlich ängstlicher geworden?

Das denke ich schon. Früher war es üblich, dass auch Kinder alleine draußen spielen gehen könnten. Das ist heute oft undenkbar. Da sind Mütter und Väter viel ängstlicher geworden.

Gibt es etwas an dieser Coronazeit, das Sie wütend gemacht hat?

Eher privat als beruflich, in dem Fall als Mutter von zwei Kindern. Dieses Hin-und-Her, Schule auf, Schule zu, Distanzunterricht, Präsenzunterricht und wieder zurück. Das war und ist für alle Beteiligten eine Zumutung. Für die Kinder, für die Eltern, für die Lehrer, für die Schulleiter. Die Leute konnten sich auf nichts einstellen, weil sich die Situation dauernd änderte. Das zermürbt.

Haben Sie ganz persönlich während der Pandemie Angst gespürt?

Ja. Die größte Angst war, dass Angehörige schwer erkranken und wir sie im Krankenhaus nicht besuchen könnten. Das war auch konkret, da meine Eltern 86, bzw. 76 Jahre alt sind. Ich hatte auch Angst, sie anzustecken oder andererseits, durch Abstand und weniger Besuche, sie im Stich zu lassen. Um mich selbst, also vor einem schweren Verlauf, hatte ich keine Angst.

Was wünschen Sie sich für Ihre Patienten in dieser Zeit?

Dass es bald wieder möglich sein wird, sich unbefangen mit anderen Menschen zu treffen. Dass die Haupt-Ressource, der menschliche Kontakt, die menschliche Berührung, wieder jedem offen steht.

Was tun Sie, wenn Corona vorbei ist, außer Aufatmen?

Ich mache eine große Party, lade unsere Freunde und die Familie ein, hole vielleicht Kindergeburtstage nach.

Zur Person

Teresa Sievert ist 47 Jahre alt, in Köln geboren, aufgewachsen in Bergisch-Gladbach. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet gemeinsam mit ihrem Ehemann, ebenfalls Psychologe, in einer psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis in Olpe-Eichhagen.

Sie hat in Bielefeld Psychologie studiert, in der Psychiatrie der Rheinischen Landesklinik Bonn gearbeitet, danach in der Psychosomatischen Fachklinik Hochsauerland in Bad Fredeburg.