Lennestadt. Ein No-Go: Ratsmitglieder aus Corona-Risikogruppen dürfen nicht per Videoübertragung aktiv an einer Ratssitzung teilnehmen.

Jürgen Dolle ist angefressen. Das neue SPD-Ratsmitglied, kompetenter Fachmann für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum, hätte nur zu gern an der letzten Lennestädter Ratssitzung aktiv teilgenommen und mitdiskutiert, als es um die Einstellung eines Kümmerers, also medizinischen Koordinators ging. Aber als Corona-Risikopatient blieb er aus Sicherheitsgründen zuhause. Technisch wäre es kein Problem gewesen, ihn per Videokonferenz zuzuschalten. Aber die Gemeindeordnung NRW hat was dagegen, Rede- und Stimmrecht können nur in einer Präsenzsitzung ausgeübt werden.

Eine Regelung, die in diesen Zeiten, wo der größte Teil des öffentlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens per Videokonferenzen gesteuert wird, wie aus dem letzten Jahrhundert stammt. „Ein No Go in diesen Zeiten“, sagt auch Jürgen Dolle selbst, „ganze Parteitage finden digital statt, überall funktioniert das, nur bei uns nicht.“ Er hat deshalb bereits die Landesbeauftragte und den Bundesbeauftragten für Menschen mit Beeinträchtigungen angeschrieben und auf die Schieflage aufmerksam gemacht.

Unterstützung von vielen Seiten

Unterstützung bekommt er von vielen Seiten, auch von seiner Fraktion. Fraktionschef Heinz Vollmer nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: „Dass man nur präsent abstimmen und reden darf, ist absoluter Schwachsinn in der heutigen Zeit. Die Gesetzgebung kommt nicht nach, das müsste so schnell wie möglich geändert werden. Andere veranstalten Videokonferenzen mit hunderten von Leuten, wo jeder reden und abstimmen kann und wir kriegen das hier nicht hin, das ist ein Witz, ein Skandal und eine Sache, die man ändern muss, so schnell wie möglich.“

Soll-Stärken und Paring

Die Gemeindeordnung NRW beinhaltet ein paar Instrumente für Krisensituationen, die auch angewandt werden. Mittels Soll-Stärken-Vereinbarung kann die Anzahl der Ratsmitglieder analog zur Mehrheitsstruktur verringert werden, wie jüngst in Kirchhundem, wo nur die Hälfte des Rates tagte. Laut Paring-Vereinbarung können bei Ausfällen wegen Krankheit oder erhöhtem Krankheitsrisiko Mitglieder anderer Fraktionen auf die Teilnahme an Abstimmungen verzichten, damit die Mehrheitsverhältnisse gleich bleiben. So praktiziert in der letzten Ratssitzung in Lennestadt, wo neben Jürgen Dolle (SPD) die CDU-Stadtverordnete Kerstin Brauer auf ihr Stimmrecht verzichtete. Neu ist in NRW seit April die Möglichkeit, die Entscheidungsbefugnis des Rates auf den Hauptausschuss zu delegieren, wenn der Landesgesetzgeber eine „epidemische Lage von landesweiter Tragweite“ festgestellt hat.

Öffentlichkeitsgrundsatz

Aber wie man mit einem „Fall Dolle“ umgeht, also Risikopersonen, die nicht an Ratssitzungen teilnehmen und dadurch ihr demokratisches Mandat nicht ausüben können, dazu hat sich der Landesgesetzgeber bisher nicht geäußert. Demnach dürfen Präsenzsitzungen nicht durch digitale Formate wie Telefon- oder Videositzungen ersetzt werden, weil der Öffentlichkeitsgrundsatz des § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW dagegen spreche, so die Juristen.

Balance zwischen Präsenz und digital

Jürgen Dolle fordert perspektivisch eine Lösung des Problems. Er ist überzeugt, dass es künftig ähnliche Situationen geben werde. „Das wird sich nicht ändern. Wir brauchen digitale Instrumente für den Alltag.“ Dabei gehe es nicht darum, Präsenzveranstaltungen komplett abzuschaffen. Dolle: „Man muss hier die Balance zwischen Präsenz und digital finden.“

Andere Bundesländer sind in dieser Frage weiter. Im Saarland zum Beispiel hat der Landtag im Juni das Kommunalselbstverwaltungsgesetz geändert. In bestimmten Notlagen sind Videokonferenzen an Stelle von Präsenzsitzungen dort möglich. Um die Öffentlichkeit zu wahren wird der öffentliche Sitzungsteil in Wort und Bild in den Sitzungssaal des Rates übertragen.

Komplexe Thematik

Ob und wann dies auch in den NRW-Kommunen möglich sein wird? Lennestadts Bürgermeister Tobias Puspas glaubt nicht an eine schnelle Gesetzesänderung, das Thema sei zu komplex, es gehe um Rechte, unter anderem um Persönlichkeitsrechte. So müsse jedes Ratsmitglied damit einverstanden sein, dass sein Bild per Internet-Streaming übertragen werde. Puspas: „Wenn der Gesetzgeber uns aber die Möglichkeit dazu gibt, würden wir es so schnell wie möglich einrichten.“