Olpe. Der Olper Allgemeinmediziner Martin Junker kritisiert unter anderem, dass viel zu wenige „Corona-Tote“ obduziert worden seien.
Drosten, Lauterbach, Streek – die Meinungsführer in Sachen „Corona“ tauchen fast täglich in Talkshows, Zeitungen, Radiosendern oder im Internet auf. Dr. Martin Junker (73) aus Olpe ist ein Mann der medizinischen Basis, Landarzt und Allgemeinmediziner, der seit über 43 Jahren die Menschen hier vor Ort behandelt. Wir hatten Gelegenheit, mit ihm über das Thema Corona zu sprechen.
Herr Dr. Junker, Seit etwa fünf Monaten hat Corona die Welt im Würgegriff, hätten Sie so etwas für möglich gehalten?
Dr. Martin Junker: Nein, in dieser Form nicht.
Haben Sie in ihren über 40 Praxisjahren schon etwas annähernd Ähnliches erlebt?
Ich denke, dass wir das bei der einen oder anderen Grippewelle so ähnlich schon gehabt haben. Aber wir haben es nicht so bedrohlich empfunden. Der Unterschied zu diesem speziellen Virus ist, dass es offensichtlich doch ganze Organsysteme und auch die Feinstrukturen des Körpers befallen kann. Das macht es unkontrollierbarer und vielleicht gefährlicher als ein Influenza-Virus. Aber durch das Influenza-Virus haben wir vor zwei Jahren deutlich mehr Tote gehabt als die bis jetzt vorliegenden Zahlen von Corona-Infizierten, die verstorben sind.
Ist das Corona-Virus ansteckender als ein Grippe-Virus?
Es erscheint ansteckender als das Influenza-Virus, aber das Hauptproblem ist, dass wir es noch viel zu wenig kennen. Die Strategien bauen daher eher auf Vermutungen. Offenbar können noch schwierige Komplikationen auch im Spätstadium der Krankheit auftreten. Das kennen wir von der Grippe so nicht.
Sie sind 73 Jahre alt. Haben Sie persönlich Angst vor Corona?
Nein. Das geht, glaube ich, den meisten langjährig praktizierenden Kollegen so. Wir sind im Laufe unserer vielen Praxisjahre mit so vielen Erregern, bekannt oder unbekannt, in Kontakt geraten, dass wir auch in einer noch so grassierenden Grippewelle vielleicht mal einen banalen Schnupfen bekommen, mehr aber nicht. Ich wüsste nicht, wann ich in den vergangenen zehn Jahren mal ernsthaft krank gewesen wäre.
Gibt es irgendeinen Tipp des Praktikers, etwas gegen Corona zu tun?
Ich glaube, dass diejenigen, die sich regelmäßig, mehrere Jahre hintereinander gegen Grippe haben impfen lassen, besser über Corona hinwegkommen. Obwohl es nicht der gleiche Virus-Typ ist. Ich glaube, dass eine dadurch erreichte bessere Immunität querbeet auch gegen andere Virus-Erkrankungen wirkt.
Wenn es einen Corona-Impfstoff gibt, lassen Sie sich impfen?
Wenn es einen Impfstoff geben sollte, der auf dem gleichen Grundprinzip beruhen sollte, wie die bisherigen Impfstoffe, also nicht mit lebenden Keimen, sondern einen Totimpfstoff oder gegebenenfalls mit stark abgeschwächten Keimen wie bei der Masernimpfung, dann würde ich dem zustimmen. Aber ich möchte wissen, in welche Richtung geht das? Wird damit unter Umständen die Genetik eines Menschen unwiederbringlich verändert? Es sollte eher in die andere Richtung gehen.
Wie schnell kann es gehen?
Nicht vorauszusehen. Aber wir werden es brauchen, denn es zeichnet sich ab, dass es bereits Varianten des Virus gibt, dass es mutiert ist und wir dann nicht wissen, ob der Impfstoff, den wir gerade entwickelt haben, dann auch noch dafür hilft.
Sind die Reaktionen der Politik vernünftig und verhältnismäßig?
Es wäre gut gewesen, wenn man schon sehr früh ein Mundschutzgebot verhängt und viel früher flächendeckende Tests gemacht hätte und nicht immer nur nach der jeweiligen Bedarfslage reagiert hätte.
Wir bekommen jeden Tag Zahlen von Infizierten und Toten, die mit Corona verstorben sind. Warum wird so wenig obduziert, was doch Klarheit bringen könnte, wer tatsächlich an Corona verstorben ist?
Das kann ich auch nicht verstehen. Im Vergleich zu den Euro-Milliarden, die ausgeschüttet werden, um die Folgen zu bekämpfen, wären das Peanuts gewesen, die man dafür hätte aufwenden müssen. Und darin liegt auch das Versagen der sogenannten Experten, dass sie das Problem von dieser Seite nicht angegangen sind. Um einfach das Virus besser kennen zu lernen, um dann entsprechend gezielt Maßnahmen treffen zu können.
In Hamburg hat der Pathologe Prof. Klaus Püschel über 100 Corona-Tote obduziert und behauptet, diese Menschen seien ausnahmslos an anderen Vorerkrankungen verstorben. Wird das in Ärztekreisen kritisch gesehen oder eher bestätigt?
Es gibt auch einige andere Studien, die zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Es sind natürlich auch Patienten an Corona gestorben, aber ich glaube, das ist doch eine verschwindend geringe Zahl im Vergleich zu denen, die mit Corona verstorben sind.
Muss man denn den Pathologen glauben?
Ja. Der Pathologe ist immer der klügste Mediziner von uns allen. Er hat immer Recht. Aus der Obduktion heraus können viele und wertvolle Rückschlüsse gezogen werden. Gerade deshalb müsste in dieser Pandemie dringend mehr obduziert werden. Das kann nicht am Geld liegen, sondern es ist eine Fehlentscheidung der Politik.
Im Kreis Olpe werden zurzeit 56 Corona-Tote bilanziert. Wie viele davon sind nach ihrer Schätzung tatsächlich an Corona verstorben?
Das ist schwer zu sagen. Aber wenn ich die Altersstruktur von im Durchschnitt über 80 Jahren ansehe, glaube ich, dass wahrscheinlich weit mehr als die Hälfte an anderen Krankheiten ursächlich verstorben ist.
Die öffentliche Mehrheitsmeinung ist eindeutig: Nur durch den Lockdown sei die Katastrophe verhindert worden. Glauben Sie das auch?
Wenn früher reagiert worden wäre, und das war möglich, beispielsweise mit durchgängigem Mundschutz, wäre dieser strenge Lockdown zu vermeiden gewesen. 2013 ist ein Strategiepapier an alle Mitglieder des Bundestages verteilt worden, in dem detailliert aufgeführt war, was zu tun wäre, wenn ein unbekanntes Corona-Virus auf unsere Gesellschaft treffen würde. Das ist dann offenbar in der Schublade verschwunden.
Hätte man mit den alten Menschen anders umgehen müssen?
Ja. Das, was ich in Pflegeheimen gesehen habe, erschüttert mich. Dass alte Menschen von ihrer vertrauten sozialen Struktur, von ihren Angehörigen, den wenigen, die sie überhaupt noch besuchen, in dieser Form isoliert worden sind, halte ich für beschämend. Das hat manches gebrochene Herz verursacht. Das hätte man anders machen können und anders machen müssen.
Wie?
Man hätte von Amts wegen anordnen müssen, Besuchszimmer einzurichten, mit Plexiglasausrüstung und Desinfektionsmaßnahmen. Das Recht hat jeder Schwerverbrecher, jeder zum Tod Verurteilte in den USA, die können jederzeit besucht werden, aber unsere alten Leute durften so etwas monatelang nicht, und das wäre absolut nötig und möglich gewesen. Hier hat man grobe Fehler gemacht, alles über einen Kamm geschoren und die psychische Situation alter Menschen nicht ausreichend berücksichtigt. Ein schwerwiegender Fehler aller zuständigen Behörden.
Bodo Schiffmann, Wolfgang Wodarg und andere haben sich zu vehementen Kritikern der Politiker herauskristallisiert, die sagen, die Einschränkungen seien unverhältnismäßig und unnötig. In Talkshows tauchen sie kaum auf. Wie stehen Sie dazu?
Gerade bei einem solch unbekannten Virus muss man alle Seiten anhören und nicht ideologisch auf dem eigenen Standpunkt verharren. Die Politik hätte sich viel früher auch mit anderen Ansichten auseinandersetzen sollen. Was ich bemängele, ist, dass bei der Flut von Talkshows nie jemand aus der Ärzte-Praxis mit am Tisch gesessen hat oder sitzt. Wir sehen Wissenschaftler, die so tun, als hätten sie die Wahrheit gepachtet. Dafür wissen sie aber über das Virus viel zu wenig. Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten der medizinischen Praxis hätten helfen können. Anderslautende Meinungen wurden häufig untergebuttert, und das hat meines Erachtens unserer Demokratie geschadet. Unterm Strich stelle ich nach meinem derzeitigen Überblick fest, dass die Sterblichkeitsrate in diesem Jahr nicht signifikant vom Durchschnitt der Vorjahre abweicht. Ein Auf und Ab gibt es da immer. Das ist mit einzuberechnen. Wir wissen nicht einmal, ob bei den vielen Todesfällen in der Grippewelle vor zwei Jahren nicht schon Corona-Fälle dabei waren. Das ist damals ja nicht getestet worden.
Haben es die Schweden besser gemacht?
Der Vergleich ist schwierig. Die Schweden haben ihre Wirtschaft und das soziale Miteinander nicht so abgewürgt wie die anderen Länder, und niemand weiß, ob sich aus dem Lockdown indirekt gesundheitliche Probleme, auch mit tödlichen Folgen ergeben. Ich kann das nicht ausschließen. Wir kennen ja auch nicht die Spätfolgen für unser wirtschaftliches System.
Könnte sich ein Land wie Deutschland 2021 noch einmal einen solchen Lockdown erlauben?
Auf keinen Fall. In vielen Bereichen, beispielsweise in Unternehmen, ist das aber auch nicht nötig. Ich habe als Betriebsarzt mit Firmen passgenaue Konzepte erarbeitet, und das hat sehr gut funktioniert. Man muss nicht alle und alles über einen Kamm scheren.
Wie viele Corona-Tests haben Sie in ihrer Praxis gemacht, also Abstriche?
Eine Handvoll.
Wie viele von diesen Tests waren positiv?
Zwei.
Angenommen, ich als Otto-Normalverbraucher würde mich in Ihrer Praxis testen lassen wollen, was würde mich das kosten?
Wenn die Gebührenordnung für Ärzte angesetzt wird, müssen sie etwa 150 Euro ansetzen.
Was würden Sie tun, wenn Sie Gesundheitsminister wären?
Ich würde wesentlich mehr Leute aus der Praxis hören und deren Erfahrung mit einbeziehen, als mich nur nach der Expertise von Leuten aus irgendwelchen Labors zu richten, die die meiste Zeit vor ihren Rechnern sitzen. In Sachen Corona sollten wir vorsichtig bleiben und weiter auf die Masken setzen.
Gibt es einen sicheren Platz vor Corona?
Ja, die Sauna, das ist der sterilste Platz, den man sich vorstellen kann.
Steckbrief:
Martin Junker (73) ist in Olpe geboren und aufgewachsen, studierte in Münster, Wien und Würzburg und stieg 1977 in die Praxis seines Vaters Erich ein. Junker ist Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung für die Kreise Olpe, Siegen und Märkischer Kreis.
Der Allgemeinmediziner ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, seine Tochter Stefanie gehört seit 2017 zur Praxis.
Seine Hobbys sind die Jagd und das Segeln.