Rhode. . Linda Müller ist Goldschmiedegesellin. Sie wandert seit drei Jahren durch die Welt. In ihrem Leben spielt „Mathilda“ eine große Rolle.
Manche halten sie für eine Hexe. Andere denken, sie wäre ein Cowgirl oder eine Schornsteinfegerin. Linda Müller hat schon viele Mutmaßungen gehört, wenn sie in ihrer Kluft durch die Straßen zieht. Neugierige Blicke streifen ihren Hut, ihre Weste, bleiben an dem Wanderstock hängen. Die 33-Jährige ist Goldschmiedegesellin. Doch anstelle eines festen Arbeitsplatzes ist sie seit mehr als drei Jahren auf Wanderschaft. Auf der Walz, wie man die Tradition im Handwerk auch nennt. Ohne Handy, ohne Auto – nur mit Kompass und Karte ausgestattet. Momentan macht sie Halt in Rhode. „Wenn mal was nicht so gut läuft, spreche ich zu Mathilda“, erklärt sie. „Die ist immer für eine Überraschung gut.“
Wer Mathilda ist, das wird Linda Müller später erklären. Jetzt legt sie erstmal ihr Gepäck beiseite. Sie ist grade bei der Gold- & Silberschmiedemeisterin Ursula von Sobbe-Bitzer in Rhode angekommen. Per Anhalter, natürlich. Wie so häufig. Trampen gehört für die Wandergesellin einfach dazu. Heute haben sie wieder ein paar nette Leute an der Straße aufgesammelt, erzählt Müller. Sie pendelt derzeit zwischen Olpe und Köln, wo sie bei ihrem Freund Stefan untergekommen ist. Stefan ist ebenfalls Wandergeselle, ein Müller, der von Ort zu Ort reist. Die beiden haben sich auf der Walz kennengelernt. Jetzt kürzlich waren sie zusammen unterwegs, haben ihre Zeit in Spanien verbracht. Doch ab und zu trennen sich ihre Wege. Dann wandert die junge Frau alleine. Immer auf der Suche nach Arbeit, nach Schlafplätzen, nach Mitfahrgelegenheiten. Angst? Die junge Frau schüttelt den Kopf. „Wenn man im Park spazieren geht, kann einem auch was passieren“, sagt sie und lacht. „Ich schlafe manchmal auch im Wald, das macht mir nichts.“
Die ganz besondere Formel
Linda Müller kommt ursprünglich aus Schleswig. Es ist jetzt mehr als drei Jahre her, als sie losgezogen ist. Wie es die Tradition will, wurde sie beim Abschied über das Ortsschild gehoben. Mittlerweile war sie in der Schweiz, in Österreich, Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien – und in etlichen Regionen deutschlandweit unterwegs. Immer mit dabei, ihr Wanderstock. Genauer gesagt, der „Stenz“, wie er genannt wird. Geschnitten vom Baum, geformt durch das Geißblatt. Eine Schlingpflanze, die sich um das Holz windet und ihm diese charakteristische Form verleiht. Ein Stock, der aussieht als sei er aufwendig geschnitzt worden. „Er hat mich gefunden“, sagt Müller und erzählt, dass sie ihren Stenz 2015 aus einem Waldstück bei Kiel geholt hat. „Wenn du den richtigen findest, spürst du einfach, dass er mitgenommen werden will.“
Was auch nicht fehlen darf, das ist der Schnack. Der Schnack ist ein Spruch. Eine besondere Formel, die die Handwerksgesellen aufsagen, wenn sie beispielsweise kostenlos mitgenommen werden wollen. Manchmal sprechen sie auch im Restaurant vor, um etwas zu essen zu erhalten. Der Spruch ist geheim. Linda Müller verrät nur, dass die Zeilen relativ lang sind. Der Schnack wird niemals aufgeschrieben – nur mündlich weitergegeben. „Einmal habe ich in einem Tattoo-Studio vorgesprochen“, erzählt Müller. „Das war bei Augsburg in der Nähe. Hätte auch nicht gedacht, dass das funktioniert.“
Seitdem ziert ein ausgestreckter Daumen ihren rechten Unterarm. Ein Motiv aus dem Film „Per Anhalter durch die Galaxis“. Quasi symbolisch für ihre eigene Reise. Ein bisschen wie ein Glücksbringer. Obwohl, dafür ist eigentlich Mathilda da, sagt Müller und lächelt geheimnisvoll. „Mathilda nennen wir die Straße“, erklärt sie. „Die wurde irgendwann mal so genannt.“ Wandergesellen sprechen zu Mathilda, wünschen sich, dass sie ihnen den richtigen Weg weist, wünschen sich ein warmes Bett für die Nacht. „Manchmal hat Mathilda richtig Humor“, lacht Linda Müller. „Aber sie ist immer aufregend.“
Und viele Male hat Mathilda sie zu Menschen, geführt, die sie nicht mehr vergessen wird. Einmal war da dieser Typ in der Kneipe in Marburg, erinnert sich die Goldschmiedegesellin. Das war der Abschluss eines langen Tages, Linda Müller war langsam müde, hatte noch keinen Schlafplatz. Und dieser fremde Mann hatte eine Idee, empfahl ihr ein Hostel ganz in der Nähe und gab ihr sogar das Geld dafür. Ein anderes Mal hat sie durch Zufall Markus Maria Profitlich („Mensch Markus“) getroffen. Der hatte sie prompt zu seiner Show eingeladen, ihr Zutritt zum VIP-Bereich gewährleistet und ein Hotelzimmer bezahlt. „Ich habe wirklich wundervolle Menschen getroffen und jede Menge gelernt auf meiner Reise“, sagt sie.
Mathilda wird es richten
Viel gesehen hat sie von Olpe noch nicht. Das möchte sie aber noch nachholen. Bis Ende des Monats bleibt sie auf jeden Fall bei Ursula von Sobbe-Bitzer. Dann schaut sie mal, wo sie der Weg hinführt. Dieses Jahr will sie ihre Wanderschaft jedenfalls noch nicht beenden, vielleicht im kommenden Jahr. Wer weiß, wo sie landet, wenn sie ein letztes Mal den Daumen ausstreckt. Eine feste Anstellung als Goldschmiedin, vielleicht sogar eine kleine, eigene Werkstatt. Aber wie sagt Linda Müller immer: „Mathilda wird es schon richten.“