Drolshagen. . Durch einen Bericht in der Westfalenpost wurde Wolfgang Clemens aus dem kleinen Dorf Schlade bei Bleche in Drolshagen angeregt, das traurige Schicksal eines der Dorfbewohner in der Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und daran zu erinnern.
Durch einen Bericht in der Westfalenpost wurde Wolfgang Clemens aus dem kleinen Dorf Schlade bei Bleche in Drolshagen angeregt, das traurige Schicksal eines der Dorfbewohner in der Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und daran zu erinnern.
Es handelt sich um Joseph Dickhoff, der Anfang 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Marsberg starb. Offiziell wird die Ursache seines Todes im Alter von 37 Jahren in den Akten mit „Völlige Entkräftung (Hungertod)“ angegeben. In Wahrheit aber war es wohl ein gewollter und bewusst herbeigeführter Tod durch Verwahrlosung.
Dank der Recherchen des Drolshagener Arbeitskreises „Nazi-Opfer in Drolshagen“ konnte Wolfgang Clemens die äußeren Daten und Umstände ermitteln. Zudem konnte er Zeitzeugen befragen, die sich zum Teil noch lebhaft an die Ereignisse der Jahre 1944 und 1945 erinnern.
Die Kindheit
Geboren wurde Joseph Dickhoff am 30. Januar 1908 in Schlade. Mit seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester lebte er dort in einem Dreifamilienanwesen, dessen mittlerer Teil das Haus der Großeltern von Wolfgang Clemens war. Joseph Dickhoff litt seit seiner Geburt unter Krampfanfällen (Epilepsie) und galt somit als behindert.
Heute wäre er ein Fall für besondere Fördermaßnahmen, damals war daran nicht zu denken. In die Schule durfte er nur einen einzigen Tag gehen. Und an diesem Tag wurde er sofort als unbeschulbar eingestuft, nachdem er den Wasserhahn am Schulwaschbecken im Flur der Blecher Schule nicht zugedreht und das Wasser habe überlaufen laufen lassen. Das weiß eine Zeitzeugin aus Erzählungen. Woher sollte Joseph einen Wasserhahn kennen, kannte er von zu Hause doch nur die Handpumpe am Brunnen. Er wurde zu Hause erzogen und verrichtete später wie selbstverständlich die anfallenden Arbeiten in der Landwirtschaft der Eltern.
Die Deportation
Im April 1944 wurde er aus Schlade deportiert, in die Provinzialheilanstalt Warstein gebracht und nach wenigen Wochen am 10. Mai 1944 nach Marsberg verlegt, wo er dann neun Monate später Anfang Februar 1945 starb. Bei den genauen Daten ergeben sich zwischen den Akten der Stadt Drolshagen und der Krankenakte Unterschiede von einigen Tagen, was Fragen aufwirft.
Die Familie
Welches Leid sich hinter diesen nüchternen Daten verbirgt, kann man heute kaum ermessen. Aber es gibt noch immer Zeitzeugen, die sich zum Beispiel an die Tränen erinnern, die Joseph beim Abschied aus Schlade vergoss, und daran, wie groß die Verzweiflung seiner Mutter, Maria Regina Dickhoff (geb. Theile aus Husten), war. Ihr habe man (wer auch immer) beim Abtransport ihres Sohnes versprochen, nur ein Kind abzuholen und nicht zwei, denn auch Josephs Bruder Adam galt als leicht behindert.
Die Eltern durften ihren Sohn nicht besuchen, ihnen wurde lediglich eines Tages mitgeteilt, es gehe ihm „gesundheitlich sehr schlecht“.
Daraufhin machte sich seine Schwester Paula auf den deutlich mehr als 100 Kilometer weiten Weg nach Marsberg. Angesichts der damaligen Umstände alles andere als ein leichtes Unterfangen: Immerhin handelte es sich auch um die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Als die Schwester in Marsberg ankam, teilte man ihr mit, ihr Bruder sei gestorben. Sie durfte ihn nicht sehen, und auch niemand anderer sah ihn wieder. Ein ordentliches Begräbnis fand laut der späteren Recherchen offenbar nicht statt.
Die Mutter von Joseph Dickhoff verstarb 1951, und heute gibt es keine direkten Nachfahren der Familie mehr.
Die weiteren Opfer
Aus dem Bereich der Kirchengemeinde Bleche ist er eines von vermutlich zwei Euthanasie-Opfern der Willkürherrschaft der Nazis. Er teilt aber auch das Schicksal mit den Frauen der St.-Joseph-Station des Gerhardushauses in Drolshagen, damals eine Abteilung für Epilepsie und Geisteskrankheiten. Diese wurde 1943 auf Anweisung der Behörden aufgelöst und in ein Reservelazarett verwandelt, weil man Plätze für verwundete Soldaten brauchte.
Von den damals gewaltsam abtransportierten 77 Frauen und Mädchen überlebten in Marsberg und an anderen Orten nur 25 die Zeit des Nationalsozialismus. Der Tod der anderen wurde wahrscheinlich ähnlich wie der von Joseph Dickhoff durch Vernachlässigung bewusst herbeigeführt.
Die tödliche Ideologie
Joseph Dickhoff ist als ein Opfer der Euthanasie-Maßnahmen des Hitlerregimes einzustufen. Nach der NS-Rassenlehre galt es, den Erbbestand der Arier zu verbessern. Dazu sollte „unwertes Leben“ vernichtet werden. Bekannt ist etwa die Tötungsanstalt im hessischen Hadamar, wo etwa 14 500 Menschen aufgrund körperlicher und psychischer Schäden getötet wurden. Die im Jahre 1940 im Geheimen begonnene „Aktion T4“ musste zum Ärger Hitlers und seiner Getreuen 1941 abgebrochen werden, nachdem der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in mutigen Predigten das Vorgehen angeprangert hatte. Diese Predigten waren insbesondere durch katholische Jugendgruppen trotz Verbots verbreitet worden. Dass die bewusste Vernichtung von Menschenleben dennoch auf andere Art weiterging, das beweisen Schicksale wie das von Joseph Dickhoff und den Bewohnerinnen der St.-Josephs-Station.
Die historische Einordnung
Historiker diskutieren bis heute, ob es eine zentrale Lenkung der Krankenmorde gab. In den Veröffentlichungen findet man auch die Begriffe „regionale“ oder „wilde Euthanasie“. Unbestritten ist, dass es verbrecherisches Verhalten von Pflegekräften und Ärzten jener Zeit gab, das geduldet und wahrscheinlich sogar seitens der Nationalsozialisten gefördert wurde.