Attendorn. Im Internat am Nordwall feiern Alleinstehende, Hilfesuchende und Kranke das Weihnachtsfest. Vorurteile gibt es hier nicht, nur Gastfreundschaft.

Weihnachten kann auch richtig wehtun. Denen, die das Fest der Liebe allein feiern müssen, weil sie niemanden mehr haben oder verstoßen sind vom Familienverbund. Denen, die krank sind. Denen, die kein Geld haben für ein warmes Essen und erst recht keines für Geschenke.

„Wenn ich mich frage, mit wem Jesus heute Weihnachten verbringen würde, dann lautet die Antwort: Mit genau den Menschen, die morgen zu uns kommen“, sagt Präses Michael Lütkevedder mit leiser Stimme. Inspiriert von Papst Franziskus, der mahnt, die Kirche solle an die Ränder gehen, öffnet das Collegium Bernardinum auch morgen seine Pforten und heißt zum fünften Mal Alleinstehende, Hilfebedürftige, Kranke und arme Familien aus dem Kreis Olpe willkommen. Zur Christmette, einem festlichen Abendessen und anschließender Bescherung. Herzlich, gastfreundschaftlich und ohne jedes Vorurteil.

Gelebte Nächstenliebe

Es sind die kleinen Wunder, die unser Dasein so lebenswert machen. Und von diesen haben sich am Heiligen Abend im Internat am Nordwall in Attendorn schon manche ereignet. Da war die Frau, die so lange so sehr unter dem Tod ihres Mannes gelitten hatte. „Und bei uns in der Gemeinschaft konnte sie das erste Mal wieder das Lied Stille Nacht singen“, erzählt der Präses und lächelt. Da war die psychisch Kranke, die nach dem Festessen in der Aula jauchzte: „Und ihr habt für mich gekocht!“ Und da war die Familie, die die gelebte Nächstenliebe als so wärmend empfand, dass sie den Präses bat, bei nächster Gelegenheit ihr Kind zu taufen. „All das erlebe ich sehr emotional. Dann denke ich: Das ist Bethlehem 2017“, sagt der Gottesmann und kann und will seine Rührung nicht verbergen.

In dem Internat leben derzeit 40 Jungen im Alter von elf bis 19 Jahren, hinzu kommen weitere 36 Mädchen und Jungen im sogenannten Tagesinternat. Alle der jungen Bewohner haben schwierige persönliche Geschichten. Diese handeln von Familien, in denen es zum Teil noch weniger Liebe als Geld gibt. In denen häufig Werte und Halt fehlen. Die Folgen für die Jugendlichen sind nachlassende schulische Leistungen, schlechte Noten, Enttäuschungen, auch Süchte. „Bei mir sitzen aber auch Eltern mit akuten Ängsten, die mit dem Gefühl leben: Wir haben es nicht geschafft, wir müssen unser Kind abgeben“, erzählt Internatsleiter Lütkevedder.

So gelingt Integration

Es geht also um Vertrauen, um Zuwendung, darum, Stärken zu stärken. All das brauchen auch die 13 unbegleiteten, zum Teil noch minderjährigen Flüchtlinge, die ebenfalls zu der Schicksalsgemeinschaft des Internats gehören. Ramez Mhawish (17) ist einer von ihnen. Der Moslem lebt seit zwei Jahren dort und freut sich auf Weihnachten: „Wir feiern einfach gerne mit. Und wir sind nicht allein an diesem Abend“, sagt er. Denn das Heimweh nagt unablässig an der Seele, die spärlichen telefonischen Kontakte mit Eltern und Geschwistern können keine Umarmung ersetzen.

Wir werden das, was wir sind, durch Begegnungen. Die Jungen aus Afghanistan, Deutschland, Syrien und den anderen Herkunftsländern lernen voneinander, immer wieder, jeden Tag. Vor allem: Das Leben zu meistern, trotz aller Misserfolge, trotz aller Rückschläge zuversichtlich zu bleiben. Für Leid gibt es keinen Maßstab. Und doch: „Wenn ich sehe, dass jemand ein größeres Problem hat, macht das meine Traurigkeit kleiner“, sagt der Syrer Munib Mabdi, der auch erst 17 Jahre alt ist. So gelingt Integration. Im letzten Jahr haben die jungen Flüchtlinge Heiligabend gemeinsam ihre Wünsche aufgeschrieben: Dass der unselige Krieg in der Heimat enden möge, endlich wieder bei Mutter und Vater sein zu können.

Meik Kozik lacht vergnügt, als er auf die Einkaufsliste für das Festessen blickt. Der 28-Jährige ist seit Mai Küchenleiter im Collegium Bernardinum. Seit gestern laufen die Vorbereitungen für das Weihnachtsbuffet, das mit Spendengeldern bezahlt wird. Morgen werden sechs Kollegen in der Küche arbeiten. „Wir machen das sehr gerne“, sagt Kozik und liest die Speisekarte vor: „Gänsekeule mit Rotkohl und Orangenjus, Schweinefilet mit Pfifferlingsauce und Wolfsbarschfilet auf Rahmspitzkohl.“ Satt sollen die Gäste sein und zufrieden, das ist sein Wunsch zu Weihnachten. „Denn was nutzen Geschenke, wenn man den ganzen Tag Schmacht hat?“, fragt er. Auch seine Kollegin Andrea Glingener (50), als Hauswirtschafterin schon zum dritten Mal Heiligabend dabei, freut sich: „Die Leute stecken nach dem Essen die Köpfe in die Küche und bedanken sich bei uns.“ Glück hat viele Gesichter.

Präses Michael Lütkevedder ist ein optimistischer Mann. Im Auftaktjahr 2013 war es völlig unklar, ob genug Geld zusammenkommen würde. „Ich habe mit dem lieben Gott einen Deal gemacht“, sagt der 58-Jährige und nickt, als ob er das Gesagte unterstreichen will. „Ich habe ihm erklärt: Wir machen das mit den Weihnachtsfeiern und Du sorgst bitte dafür, dass wir das Geld bekommen.“ Und siehe, der Herr fand Wohlgefallen an den Plänen des Internats und die Spenden kommen reichlich, alle Jahre wieder. Zuletzt hat der Präses auf der Fußmatte einen Umschlag mit Geld gefunden. Viele Geber seien froh zu wissen, wofür die Mittel verwendet werden, sagt er.

„Es tut uns gut, unser Haus zu öffnen“, meint der Präses. Gegen 21 Uhr, wenn die Gäste gehen, bleibe eine große Dankbarkeit – bei allen. Für einige Stunden könnten die Menschen Einsamkeit und Schmerzen vergessen. Am Ende sind sie wieder da, die Gefühle: „Viele Gäste weinen bei der Verabschiedung.“