Stachelau. Mit Ehefrau und Ölperin Edelgard wohnt Georg Nitschke in Stachelau – fern der Heimat Fraustadt. Aus dieser musste er im Zweiten Weltkrieg flüchten.
- Georg Nitschke flüchtet im Zweiten Weltkrieg nach Olpe
- 1959 lernt er seine Ehefrau Edelgard kennen
- Bis heute leben die beiden in Olpe-Stachelau
Georg Nitschke ist ein Buiterling. Seine Frau Edelgard ist Ölper. „So werden Menschen genannt, deren beide Elternteile aus Olpe stammen“, sagt sie in der Stube ihres Hauses in Stachelau. In den 60ern hat der gelernte Maurer ihr Haus selbst gebaut.
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Dass ihr Mann ein Buiterling ist, also kein „Einheimischer“, findet sie nicht schlimm. Im Gegenteil. Genau das macht ihren Mann aus, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Fraustadt in Schlesien ins Sauerland kam – und nun mit seiner Frau durch alte Erinnerungen blättert: Feldpost seines Vaters, Essensmarken, alte Pässe, Fotos und vieles mehr. All das hat der kürzlich 80 Jahre alt Gewordene sorgsam aufbewahrt.
Nicht nur schöne Erinnerungen:
1939: Der Krieg hatte Georg Nitschkes Heimat früh erreicht. Im Herbst schlugen die ersten Granaten in Fraustadt ein. Mit seiner Familie musste er kurz woanders unterkommen. Schnell konnten sie aber wieder zurückkehren. Nur der Vater nicht. Paul Nitschke kämpfte bereits als Soldat. Zu der gleichen Zeit war Georg Nitschkes spätere Frau Edelgard noch gar nicht geboren.
1942: Im Januar hatten die Nitschkes die Gewissheit, dass sie Vater Paul nicht mehr wiedersehen würden. Ein Brief erreichte Fraustadt (siehe Foto). Ein Kamerad des Vaters schrieb darin, dass Paul Nitschke mit einem Pferdeschlitten auf eine Mine fuhr, die dann explodierte. Die Feldpost mit der eleganten Handschrift liegt heute zusammen mit vielen anderen Erinnerungen in einem Jutebeutel im Haus von Georg und Edelgard Nitschke in Stachelau. Als sie geschrieben wurde, war letztere noch kein Jahr alt.
Vertreibung aus Fraustadt
1945: „Wir müssen sofort weg!“, schrie Maria Nitschke, die Mutter des mittlerweile 8-jährigen Georgs, am 19. Januar. Dabei sollte dieser Tag eigentlich ein schöner werden. „Mein Bruder Günter hatte einen Tag später Geburtstag“, sagt Georg Nitschke. Ein Kuchen wurde deswegen im Kachelofen gebacken.
Doch bevor dieser fertig war, musste die Familie in Richtung Glogau flüchten. „24 Kilometer legten wir an dem Tag zu Fuß zurück“, erzählt Georg Nitschke von einem Marsch an Soldatenkolonnen und Schneemassen vorbei. Es war bitterkalt. In Glogau kamen sie für drei Tage in einem Kino unter, dann zogen sie zu Fuß weiter in Richtung Forst-Berge. In der Stadt an der Neiße lebte Verwandtschaft.
Doch der Krieg holte die Nitschkes auch dort ein. „Deswegen mussten wir wieder nach Fraustadt zurückkehren“, sagt Georg Nitschke. Ihr Haus, an das er sich noch in jedem Detail erinnern kann, war in der Zwischenzeit eingestürzt. Neben Kartoffeln fand Georg Nitschke noch den Geburtstagskuchen seines älteren Bruders Günter im Kachelofen. „Das müssen Sie sich mal vorstellen“, sagt seine Ehefrau Edelgard heute in ihrem Wohnzimmer in Stachlau. Bei einem gemeinsamen Besuch vor einigen Jahren in Fraustadt, erkannte Edelgard das Elternhaus ihres Mannes sogar wieder – ohne jemals selbst da gewesen zu sein: „Ich habe es aus den Erzählungen meines Mannes erkannt.“
Im Juni 1945 verließ Georg zusammen mit seinen Geschwistern und seiner Mutter Fraustadt endgültig. „Ich weiß noch“, erzählt Georg Nitschke, „auf unserer zweiten Flucht haben Mohn- und Kornblumen geblüht.“
1946: Nur die Brüder Georg und Johannes erreichten das Sauerland. Auf der Flucht war ihre Mutter gestorben, auch die Geschwister Rosemarie und Günter überlebten nicht.
Georg und Johannes kamen im Olper Waisenhaus der Franziskanerinnen unter. Kurz danach fing auch schon die Schule an. „Zwei Jahre zuvor hatten wir keinen Unterricht“, erzählt Georg Nitschke. An einen seiner Lehrer auf der Imbergschule kann er sich noch erinnern: „Ein Lehrer hieß August Sondermann“, sagt Nitschke.
Kontakte zu den Ölpern, also Einheimischen, gab es in dieser Zeit nur wenige. Die Jungen durften das Waisenhaus nur in Begleitung der Ordensschwestern verlassen.
1947: Im April 1947 feierte Georg Nitschke in der wieder aufgebauten St.-Martinuskirche die Erste Heilige Kommunion. Mit den Messdienern, die aus Olpe stammten, spielten die Jungen aus dem Mutterhaus Fußball auf der Wiese in der Wüste (heute Parkplatz und Freizeitbad). Sonntags durften sich die Buiterlinge Fußballspiele der Spielvereinigung anschauen – Sport verbindet.
Georg Nitschke trifft Edelgard Hupertz
1951: „Mit 14 Jahren bin ich nach Stachelau gekommen“, erzählt Georg Nitschke. Mit dem Beginn seiner Lehre zum Maurer bei der Firma Josef Venc musste er das Mutterhaus in Olpe verlassen und kam bei Familie Siepe in Stachelau unter. „Die Siepes hatten eine kleine Landwirtschaft“, sagt Nitschke. Bis heute ist das Verhältnis zu ihnen familiär.
1959: Georg Nitschke lernte seine große Liebe bei einem „geselligen Abend“ des MGV Stachelau kennen. Dort sah er Edelgard (geb. Hupertz) zum ersten Mal. Diese erinnert sich noch genau: „Ich war damals 16 und mein Mann 23.“ Es funkte zwischen den beiden und sie wurden ein Paar. „Trotz des Altersunterschiedes“, sagt sie mit einem Augenzwinkern.
1963: Zwöf Jahre lebte Georg Nitschke bei seiner Pflegefamilie. Nach der Hochzeit mit Edelgard (siehe Foto) zogen sie in ein Haus in Olpe.
Georgs Bruder Johannes lebte wieder im Mutterhaus, in einem Nebengebäude. Von 1955 bis zur Rente arbeitete er in der dortigen Gärtnerei. „Er war hoch angesehen“, sagt Edelgard Nitschke über den Bruder ihres Mannes, der nicht mehr lebt.
1968: Das Ehepaar Nitschke wohnte fünf Jahre lang in Olpe. Bis sie sich entschlossen, das Haus Am Hasenpfad zu verkaufen. In der Zwischenzeit wurden sie Eltern von einem Jungen und einem Mädchen. Ihr drittes Kind zog sofort mit in das neue Haus in Stachelau.
Edelgard Nitschke arbeitete nach einer kaufmännischen Lehre in einem Versicherungsbüro. Bis heute ist sie zudem im Vorstand des VdK.
1992: Anfang der 90er entschloss sich Georg Nitschke zusammen mit seinem Sohn Jürgen, in die Vergangenheit zu reisen. „Es ging auf Spurensuche“, sagt Nitschke. Vater und Sohn besuchten die Heimat des Vaters.
2016: Noch immer wohnen Georg und Edelgard Nitschke in Stachelau. Noch immer in dem Haus, das Georg in den 60er Jahren selbst gebaut hat. Längst ranken die Wurzeln des Buiterlings so tief, dass er als Ölper durchgehen könnte. So verbunden fühlt er sich mit seinem „neuen“ Zuhause.