Schwelm. .

Turbulent endete der letzte Verhandlungstag im Prozess gegen Advija M., die im vergangenen Oktober die 88-jährige Waltraud F. in Schwelm getötet hatte und sich dann vor einen Zug warf, um sich das Leben zu nehmen. Das Gericht folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verhängte eine vierjährige Gefängnisstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Kinder der getöteten Seniorin, die als Nebenkläger auftraten, werden in Revision gehen.

Wohl nach zwei Jahren wieder frei

Von den anfänglichen polizeilichen Ermittlungen wegen Mordes und der Anklage wegen Totschlags ist nach einem Prozess mit einigen Wendungen und Überraschungen also lediglich eine gefährliche Körperverletzung übrig geblieben. Grund sind komplizierte juristische Feinheiten. Das bedeutet für Advija M., das sie im besten Fall in zwei Jahren wieder auf freiem Fuß ist.

Denn das halbe Jahr, das sie bereits in Untersuchungshaft verbracht hat, wird auf die Strafe angerechnet. Und: Bei guter Führung – die ihr im Prozess zumindest diejenigen einwandfrei bescheinigten, die mit ihr im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg zu tun hatten – kann die Reststrafe nach verbüßten zwei Dritteln des Urteils zur Bewährung ausgesetzt werden.

Doppeltes „In dubio pro reo“

Das Urteil, wie es das Schwurgericht um die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen nun gefällt hat, deutete sich bereits nach den Plädoyers an. Aus Sicht der Kinder von Waltraud F. ein Unding. Die Tochter der Seniorin stand unmittelbar vor der Verhandlung vor einem Nervenzusammenbruch, musste weinend und hyperventilierend den Gerichtssaal verlassen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Hatte die Tochter der Angeklagten dies noch mit „Muss das denn sein?“ kommentiert, brach auch sie wenige Minuten später beim Urteil gegen ihre Mutter ebenfalls in lautes Schluchzen aus.

Regierten bei den Verwandten beider Seiten die Emotionen, so fußt das Urteil des Gerichts auf sehr rationalen Fakten. Die Tat müsse als zweiaktig beurteilt werden, für beide müsse der Grundsatz „In dubio pro reo – im Zweifel für die Angeklagte“ angewandt werden. So müsse für den ersten Akt – das Zuhalten von Mund und Nase, bis die 88-Jährige nicht mehr geatmet habe – gelten, dass Waltraud F. danach noch gelebt habe. Für den zweiten Akt – das Anlegen des Knebels – hingegen müsse das Gericht davon ausgehen, dass die Seniorin zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war. Was sich paradox anhört, sei laut Gericht dadurch zu begründen, dass beides nicht einwandfrei widerlegt werden könne und daher der oben genannte Grundsatz der deutschen Rechtssprechung zur Anwendung kommen müsse.

Geständnis, ehrliche Reue und die Tatsache, dass Advija M. wohl im Affekt gehandelt habe, drückten das Strafmaß weiter nach unten. Ebenfalls könne das Gericht der 46-jährigen Schwelmerin keinen Tötungsvorsatz nachweisen, sondern müsse – auch mangels Tatzeugen – davon ausgehen, dass sie der 88-Jährigen ausschließlich Mund und Nase zuhielt, um sie am Schreien zu hindern.

Auch ihr Leben mit Gewalt durch Onkel, Mutter und Ehemann, Vergewaltigung durch den spielsüchtigen Vater und 40 000 Euro Schulden durch den Ehemann und die Tochter verursacht, berücksichtigte das Gericht dahingehend, dass sie stets in der Rolle der Unterdrückten gewesen sei und nun zum ersten Mal „die Stärkere war“, wie die Richterin ausführte.

Nebenklage reicht Revision ein

Advija M. fuhr direkt wieder in die Justizvollzugsanstalt nach Gelsenkirchen, der Haftbefehl bleibt wegen Fluchtgefahr aufrecht. Ihr Verteidiger Andreas Keunecke wird auf Rechtsmittel verzichten: „Das Strafmaß ist angemessen. Auch wenn das Urteil merkwürdig klingt, konnte das Gericht gar nicht anders entscheiden. Rechtlich ist nichts zu beanstanden.“ Er und seine Mandantin seien mit dem Ausgang des Prozesses zufrieden, „mussten wir zu Beginn der Verhandlung doch mit einer deutlich höheren Strafe rechnen.“ Seine Mandantin sei auf dem Weg, psychische Stabilität zu erlangen, müsse nicht mehr derart starke Medikamente nehmen wie in den vergangenen Monaten.

Deutlich anders bewerten das Urteil indes die Nebenkläger. „Das ist einfach lächerlich“, ereiferte sich die Tochter der Getöteten nach der Verhandlung.

Ihre Anwältin Heike Tahden-Farhat wird in Revision gehen, so dass der Bundesgerichtshof in Karlsruhe darüber entscheiden muss, ob formale Fehler in dem Verfahren vorliegen. Entscheidet dieser zugunsten der Nebenkläger, würde das Verfahren ein weiteres Mal in einer Hauptverhandlung aufgerollt.

Nach vielen Prozesstagen bleibt ein Verfahren, aus dem alle Seiten als Verlierer hervorgehen: Die Kinder der Getöteten werden nie erfahren, warum Advija M. ausgerechnet ihre Mutter aufgesucht hat und leiden stark. Die Angeklagte wird mit ihrer Behinderung leben müssen. Sie hatte bei dem Suizidversuch Teile ihrer Füße verloren.