Herdecke. . Ein toter Säugling, viele zerstörte Häuser: Auch in Herdecke waren am 17. Mai 1943 die Auswirkungen der Bombardierung der Möhne-Talsperre sichtbar. Walter Klisch war Augenzeuge und wurde Heimatforscher.

Der 17. Mai 1943: In Herdecke spielten sich Dramen ab, wie sie es nach der britischen Bombardierung der Möhne-Talsperre auch andernorts entlang der Ruhr gab.

Die Stichworte der Katastrophe aus Herdecker Sicht: Kurz vor Mitternacht heulten Sirenen, am Morgen danach standen Häuser unter Wasser, das Bachviertel war überschwemmt, das Ruderclub-Bootshaus zerschellte am Viadukt, an dem die Wassermassen einen Pfeiler mitrissen und dadurch ein Loch klaffte. Nur per Notbremse stoppte ein Zug dort mittags mit 1000 Fahrgästen rechtzeitig.

Auch der gebürtige Herdecker Walter Klisch, Jahrgang 1932, war ein Augenzeuge der Flut des 17. Mai 1943. „Ich bin an jenem Montag nach der Schule gegen Mittag zur Ruhr gegangen und habe da gestanden, wo heute die Bäckerei Feldkamp ist. Uns war die Ursache für die Wassermassen völlig unklar.“ Er erinnert sich an eine Art Völkerwanderung, die in Richtung Ruhr einsetzte. „Die Leute standen auf den Anhöhen, um einen besseren Blick zu haben. Wir waren alle sprachlos angesichts dessen, was sich vor unseren Augen abspielte.“

Jahre später begann Klisch, diese Katastrophe als Heimatforscher zu dokumentieren. Ein dicker Ordner steht nun vor ihm. Im Rahmen dieser Arbeit errechnete Klisch, dass die Flutwelle etwa 4,50 Meter hoch gewesen sein muss und besonders die Firma Heinrich Habig betroffen war. „An den Fachwerkhäusern zeigte ein Schatten, wie hoch das Wasser stand. Manche Hochwassermarke dokumentierte dies.“

Ein einziger Todesfall im Herdecker Bereich ist Klisch bekannt: Ein kleiner Säugling, dessen Mutter zuvor bei der Geburt gestorben war und dessen Ersatzmutter mit dem Kind bei Klischs Tante war, wurde von den Fluten mitgerissen. „Sie hatte sich noch in einen Fensterrahmen gerettet, konnte dort ihr Ziehkind aber nicht halten.“

Neben menschlichen Schicksalen zeigt Klisch Fotos ertrunkener Schweine, Treibgut auf dem Hengsteysee, geflutete Häuser. „Der 17. Mai 1943 ist bei mir sehr präsent. Ich weiß noch, wie am Ende des Tages Apfelsinen an die Herdecker Bevölkerung ausgegeben wurden.“

Apropos Behörden: Die Aufräumarbeiten mit der Beseitigung von Schäden und Schlamm begannen laut Klisch rasch, „schließlich war die Bombardierung der Möhne-Talsperre eine Niederlage für Deutschland, von der schnell wenig zu sehen sein sollte“. Zum Viadukt etwa seien viele Maurer abkommandiert worden, damit das Loch auf Herdeckes Wahrzeichen zügig geschlossen werden konnte. „Zwei oder drei Tage später fuhr die Eisenbahn wieder drüber.“

Auch Wetter spürte Flutwelle

Von Augenzeugen ist überliefert, dass in Herdecke am 17. Mai 1943 gegen 7.30 Uhr eine Vorwelle von etwa 1,50 Meter heranbrauste, dass ihr Haus wie ein Schiff auf hoher See trieb, dass sie zum Fortkommen wechselweise Steine vor ihre Pferdewagen legten, dass Menschen bis zum Bauchnabel im Wasser standen oder Badewannen als Boote nutzten. Oder wie Albert (genannt der „Bär“) Russe auf das Dach des Herdecker Wasserwerks kletterte und um Hilfe schrie.

Auch die Nachbarstadt Wetter spürte die Flutwelle, war aber laut Heimatforscher Walter Klisch „längst nicht so stark betroffen wie Herdecke“. Fotos in seinem Privatarchiv zeigen, wie das Kraftwerk der Elektromark oder das Gelände von (ehemals Reme im Schöntal) unterspült war.

„Völlig zerstört“

Der Hagener Historiker Ralf Blank geht von etwa 1600 Toten aus, die durch die Folgen der Möhne-Bombardierung starben. Er zitiert aus einem Brief vom 19. Mai 1943: „Das untere Möhnetal und das Ruhrtal zwischen Neheim und Hengsteysee ist völlig zerstört.“

Die Flutwelle erreichte den Hengsteysee am frühen 17. Mai 1943 mit einer Geschwindigkeit von drei Metern pro Sekunde. Herdecker sahen nach dem Morgennebel das Ausmaß der Katastrophe.