Wetter. Sie sind vor dem Krieg aus ihrer Heimat in die Sicherheit nach Wetter geflohen. Auf dem Heimweg fällt ihnen plötzlich ein Baum aufs Auto.
Wie viele Schutzengel die Familie Ovdienko hat, weiß sie selbst nicht. Sicher ist aber, dass die unsichtbaren Helfer momentan Überstunden machen. Vater Andrey Ovdienko kann es immer noch nicht glauben, was ihm und seiner Tochter am vergangenen Donnerstag in Wetter passiert ist – und, dass sie unbeschadet geblieben sind.
„Für uns war es ein ganz normaler Tag. Wir wollten eigentlich nur nach Hause fahren. Und plötzlich schlug der Baum auf unser Auto“, berichtet Andrey Ovdienko. Wie durch ein Wunder blieben er und seine Tochter unverletzt. Der Baum, der an der unteren Kaiserstraße umstürzte (die Redaktion berichtete), beschädigte nur das Auto der Familie. „Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn ein Fußgänger oder Radfahrer getroffen worden wäre“, so Ovdienko.
8000 Euro Schaden
So glücklich die Familie auch ist, dass alle gesund geblieben sind, so stellt sie der Unfall nun vor ein großes Problem. Auf 8000 Euro beziffert die Werkstatt in einem ersten Kostenvoranschlag den Schaden. „So viel Geld haben wir nicht“, sagt der Vater . Er wendet sich mit einem Hilferuf an die Stadt Wetter. Die verweist ihn an den Landesbetrieb Straßen NRW, der für diesen Abschnitt verantwortlich ist. Am Montagmorgen kommt von dort das erste erlösende Signal. Man werde sich um die Schadensregulierung kümmern, sobald alle Unterlagen vorliegen. Papa Ovdienko ist erleichtert.
Bis das Auto wieder fertig ist, muss die Familie aber improvisieren. Der Besuch der orthodoxen Gottesdienste in Dortmund beispielsweise nimmt mit öffentlichen Verkehrsmitteln schon mal einen ganzen Tag in Anspruch. Zudem ist es schwierig , die Kinder ohne Auto in die Schule zu bringen oder einkaufen zu fahren. „Die Busse kommen hier nur stündlich“, weiß Ovdienko. Er hofft, dass der Schaden nun schnell behoben wird, denn die Familie hat in den vergangenen Wochen schon mehr als genug durchgemacht.
Vater Andrey ist eigentlich Priester in einer Gemeinde im ukrainischen Kiew. „Meine Kirche liegt unweit einer Militärbasis in Kiew.“ Als Russland die ersten Raketenangriffe auf die Stadt startet, empfehlen die Mitarbeiter der Basis der Familie, die Stadt zu verlassen. „Wir hätten bald nichts mehr zu essen oder medizinische Versorgung gehabt, weil alles abgeschnitten wurde, auch kein Wasser oder Gas und keinen Strom“, berichtet Ovdienko. „Wir haben nur das Nötigste eingepackt, was zu essen für unterwegs und unsere Papiere“, berichtet der Familienvater. Dann ging es los. Doch der Weg durch die Ukraine war nicht leicht. Einerseits, weil es an den Tankstellen für jedes private Auto nur 20 Liter Sprit gab und alles eingeteilt werden musste; andererseits, weil die Kontrollen sehr hart waren. „Wir mussten in jedem Ort bei den Straßensperren anhalten und wurden kontrolliert. Dort standen Männer mit Maschinengewehren. Immer wieder mussten wir unsere Dokumente vorzeigen und erklären, dass wir wirklich eine Familie sind und ich ausreisen darf, weil wir so viele Kinder haben.“
Viele Menschen auf wenig Raum
Mit einer Zwischenübernachtung in Wien kam die Familie schließlich in Wetter an. „Wir haben hier eine Freundin wohnen. Sie ist alleinerziehend und hat zwei Kinder. Bei ihr kamen wir die ersten zwei Wochen unter, bis wir in diese Wohnung hier ziehen konnten“, berichtet Andrey Ovdienko. Seine älteste Tochter wohnt mit ihrer Familie nur ein Haus weiter. Für den Familienvater beruhigend, alle zusammen zu wissen, auch wenn es momentan nicht so einfach ist. In der Drei-Zimmer-Wohnung leben sie derzeit mit sechs Leuten. Mama Larysa versucht die Kinder Olesya (18), Serafym (9), Ivan (5) und Yehov (2) möglichst viel draußen zu beschäftigen. Die Familie will den Nachbarn mit dem Lärm, den Kinder nun mal machen, nicht unnötig zur Last fallen. Ein bisschen Spielzeug und zwei Bücher für die Kinder hat Vater Andrey inzwischen besorgt. Denn die Spielgeräte, die eigentlich vor dem Haus stehen, wurden vor einiger Zeit demoliert. Und zum nächsten Spielplatz ist es für die kleinen Kinder zu weit und an einer Hauptstraße entlang zu gefährlich. Ob die Kinder wissen, warum sie ihre Heimat verlassen mussten? „Die Jüngeren verstehen das noch nicht. Die Älteren natürlich schon. Sie haben den Krieg nicht gesehen, aber gehört, wenn wir vor den Raketenangriffen in den Keller flüchten mussten“, so Ovdienko.
Ende Mai sind die Eltern für einen Integrationskurs angemeldet. Früher gab es keinen Termin. Integration ist für Ovdienko sehr wichtig, denn eine schnelle Rückkehr in die ukrainische Heimat wird es wahrscheinlich nicht geben. Er hat weiter Kontakt nach Kiew. Von einem Freund weiß er, dass 70 Prozent seiner Gemeindemitglieder die Stadt inzwischen verlassen haben. Ob sie zurückkommen, ist ungewiss.