Ennepe-Ruhr. Anna Neumann will für den Wahlkreis 139 in den Bundestag. Sie ist eine der jüngsten Direktkandidatinnen, nicht nur bei der FDP.

Sie kommt aus keinem Akademiker-Haushalt und leitet kein Unternehmen – und trotzdem ist Anna Neumann aus tiefer Überzeugung Mitglied der Freien Demokraten. Im Interview erklärt sie, warum eine liberale Stimme im Bundestag so wichtig ist, mit welchen Vorurteilen sie immer wieder zu kämpfen hat und warum sie stolz auf deutsche Soldaten ist.

Frau Neumann, Sie kommen gerade erst aus Istanbul zurück, wo sie mit türkischen Liberalen über die aktuelle politische Lage vor Ort diskutiert haben. Mit welchen Eindrücken sind Sie zurück nach Deutschland gereist?

Die jungen Menschen dort sind extrem Parteiverdrossen, was ich total verstehen kann. Das liegt mitunter am Wahlsystem, dass alle Parteien, die unter der 10-Prozent-Hürde liegen, nicht ins Parlament kommen und es somit im Endeffekt nur zwei Parteien gibt. Das Problem ist also auch ein bisschen, dass junge Menschen nicht daran glauben, dass man über organisierte Parteienform tatsächlich etwas an der Situation ändern kann. Aber: Es gibt dort seit etwa drei Jahren einen Zusammenschluss von liberal denkenden Leuten, die sich sehr für Pressefreiheit und LGBTQ-Rechte einsetzen. Das war einfach mal total interessant, deren Perspektive auf die Situation zu sehen.

Großes Thema in diesem Wahlkampf ist auch wieder die soziale Ungleichheit – welche Antwort hat die FDP auf die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Reich und Arm?

Ich würde es nicht soziale Ungleichheit, sondern soziale Ungerechtigkeit nennen, weil Ungleichheit einfach viel mit Ungerechtigkeit zu tun hat. Wenn man sieht, dass Bildungserfolg immer noch stark vom Elternhaus abhängig ist, sehen wir schon, dass wir da immer noch auf einem sehr steinigen Weg sind, was das Bildungsthema anbetrifft. In meinen Augen ist es eine riesengroße Ungerechtigkeit, dass Menschen fleißig und diszipliniert sind, aber aufgrund ihrer Herkunft nicht dieselben Bildungschancen haben wie Menschen, bei denen das Elternhaus vielleicht auch besser unterstützen kann.

Sie selbst kommen ebenfalls aus keinem Akademiker-Elternhaus. Sprechen Sie also aus Erfahrung, wenn sie über fehlende Chancengleichheit sprechen? Und falls ja: Wie hat sich diese Chancenungleichheit bei Ihnen ausgedrückt?

Ja, ganz klar: im ersten Studium. Also in der Schule ging es noch, was auch daran lag, dass meine Eltern mich sehr unterstützt haben. Aber als ich mit dem ersten Studium angefangen habe, habe ich mich vollkommen verrannt. Ich bin also nicht den geradlinigen Weg gegangen, den andere gegangen sind, sondern habe anderthalb Jahre lang erst einmal das vollkommen Falsche studiert, bevor ich die Reißleine gezogen und von Management and Economics zu Germanistik gewechselt habe. Da habe ich gemerkt, dass mir die Organisationsstruktur total gefehlt hat, und die kennt man eben auch nicht, wenn man keine Eltern hat, die ebenfalls studiert haben.

Wie kam es dann zum Entscheidungsprozess, der dazu geführt hat, dass Sie sich politisch engagieren?

Also politisch interessiert habe ich mich eigentlich schon während der Schulzeit. Zum Beispiel fand ich es schon merkwürdig, dass ich mich während des Abiturs nicht auf einen geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt festlegen konnte, sondern zwischen Sprachen und Mathematik entscheiden musste. Ich denke, da habe ich schon langsam angefangen, mich zu politisieren. Die endgültige Entscheidung, mich für eine Partei zu engagieren, kam dann aber erst etwa 2016.

Ein Zeitpunkt, zu dem die FDP nicht im Bundestag vertreten war. Wie kam es dann trotzdem zur Entscheidung, sich in einer Partei in der außerparlamentarischen Opposition stark zu machen?

Mir hat zum einen eine liberale Stimme im Bundestag gefehlt, und zum anderen war absehbar, dass mit der AfD eine anti-liberale, autoritäre Partei in den Bundestag einzieht. Das waren Punkte, die mich dann schlussendlich dazu bewogen haben, in die Partei einzutreten. Dazu hatte ich immer das Gefühl, dass die FDP für Bildungspolitik und die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg immer sehr gut gestritten hat.

Kommen wir auf die kommunalen Angelegenheiten für die Menschen hier im Wahlkreis zu sprechen: Welche Herausforderungen sehen Sie für die lokale Ebene in den nächsten Jahren?

Ich glaube, für den Ennepe-Ruhr-Kreis wird es eine Zukunftsfrage sein, ob es hier wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten gibt, ob hier neue Innovationen und Technologien entstehen können und die Region wieder zu einer Region mit größerer Perspektive wird. Bei mir in Hattingen gibt es die Henrichshütte. Die war vor 40 oder 50 Jahren mal die Zukunft. Und nach der Schließung der Hütte gab es einen heftigen Bruch und viele Existenzen, die sich plötzlich neu orientieren mussten. Seitdem habe ich das Gefühl, dass noch kein neuer Aufschwung entstanden ist durch innovative, zukunftsorientierte Unternehmen, die sich hier ansiedeln. Und ich glaube, das ist eine große Chance für den Ennepe-Ruhr-Kreis, dass hier eine große Wirtschaftsregion entsteht, die viele Arbeitsplätze schafft und den Leuten eine Perspektive gibt. Es wäre doch schön, wenn die Westfalenpost in ein paar Jahren titeln könnte: ‚Unternehmen aus Wetter entwickelt neue Technologie im Kampf gegen den Klimawandel‘.

…auf diesen Punkt steige ich gerne ein: Wie sieht konsequenter Klimaschutz aus Ihrer Sicht aus?

Ich glaube, dass wir als FDP in unserem Weg zum Klimaschutz große Unterschiede zu den anderen demokratischen Parteien haben, weil wir nicht darauf setzen, sehr viel zu verbieten, sondern im Gegenteil dazu das ganze Thema als großes Innovations- und Wachstumsprojekt interpretieren. Ich glaube wir sind uns einig darüber, dass der Klimaschutz ein internationales Thema ist, und wenn wir die Pariser Klimaziele einhalten wollen, müssen wir uns auch überlegen, wie wir Technologien zum Beispiel nach Indien verkaufen oder aufbauen, die ebenfalls dafür sorgen, dass weniger CO2 ausgestoßen wird. Und ich glaube, das können wir nur, wenn wir global denken und nicht mit nationalen Maßnahmen versuchen, das Problem zu lösen. Und genau das ist der Unterscheid zwischen einer CO2-Steuer und einem Emissionszertifikate-Handel, wie wir ihn vorschlagen.

Dann kommen wir jetzt zur entscheidenden Frage: Mit welchen Parteien könnten Sie sich eine Regierungsbeteiligung vorstellen?

Ich glaube, als anständige Demokratin verbietet es sich, Koalitionsoptionen mit demokratischen Parteien auszuschließen. Und dazu gehören für mich die CDU/CSU, die Grünen und die SPD. Klar ist es so, dass die CDU uns vom Programm her vielleicht am nächsten ist, am Ende des Tages ist es aber meine Prognose, dass es für keine Zweier-Koalition reichen wird, sondern eine Dreier-Konstellation zustande kommen wird, und egal, welche es am Ende sein wird: eine FDP-Beteiligung wird entscheidend sein.

Zum Abschluss noch eine Frage mit aktuellem Bezug: Wie lässt sich mit der Situation in Afghanistan aus deutscher Perspektive am besten umgehen?

Also ich finde es wirklich beschämend, wie wir uns dort verhalten und Leute, die deutschen Soldatinnen und Soldaten jahrelang geholfen haben, einfach so zurück lassen und dort in die Hände der Taliban geben. Deshalb war es wichtig und wichtig, solche Rettungsaktionen durchzuführen, und ich bin auch dafür, dass die Rettungsaktionen so lange durchgeführt werden, bis alle Ortskräfte gerettet sind. Gleichzeitig zeigt die Situation, dass wir uns als europäische Union mal überlegen sollten, wie wir als Europa in der Weltpolitik agieren wollen. Da kommen wir auch direkt auf den Zustand und die Haltung gegenüber der Bundeswehr. Ich finde den Spott und die Häme für die Menschen, die dort 20 Jahre gearbeitet haben und teilweise ihr Leben gelassen haben, vollkommen unangebracht. Ich bin stolz auf die Soldatinnen und Soldaten, die dort waren und dort gedient und gearbeitet haben, und ich glaube, an dieser Kultur müssen wir auch etwas verändern. Aktuell gibt es eher eine Anti-Kultur gegenüber der Bundeswehr, und das finde ich nicht gerechtfertigt.