Ennepe-Ruhr. Ina Gießwein will Menschen überzeugen, statt Stimmen erkämpfen. Und für die Grünen im Wahlkreis 139 in den Bundestag einziehen.

Der Terminkalender von Ina Gießwein ist derzeit gut gefüllt -- noch besser als ohnehin schon. Gestresst wirkt die Bundestagskandidatin der Grünen für den Wahlkreis 139 (Ennepe-Ruhr) aber trotzdem nicht. Im Gegenteil: Gießwein macht im Gespräch einen lockeren, aufgeräumten Eindruck. Beim Treffen auf dem Harkortberg erklärt die Mutter eines 19-jährigen Sohnes, was sie politisch bewegt, ob sie Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin ernannt hätte und welche Position sie zur Situation in Afghanistan bezieht.

Frau Gießwein, ganz ehrlich: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Uhr zurück zu drehen, um sich gegen eine Kandidatur zum Deutschen Bundestag zu entscheiden - würden Sie es tun?

Ina Gießwein: Nein, auf keinen Fall. Man überlegt sich das vorher und macht sich Gedanken, daher würde ich nicht anders entscheiden. Ich muss aber trotzdem sagen, dass ich echt überrascht davon war, wie viele Termine es dann doch sind, die man so wahrnehmen muss. Zumal es auch so ist, dass wenn man noch keine Abgeordnete ist, auch noch ganz normal weiter arbeitet. Ich arbeite zum Beispiel auch noch in Vollzeit als Logopädin, da ist eine Menge Zeit schon verplant. Für den Wahlkampf habe ich auch meinen Jahresurlaub genommen, ich habe also jeden Montag frei, um Termine wie diese wahrzunehmen.

Warum tun Sie sich diesen Stress an?

Ich glaube die Sache lohnt sich einfach. Das sagt vermutlich jeder, der dafür antritt, weil man muss schon eine gewisse Überzeugung haben. Was mich aber dazu besonders motiviert ist das Engagement in unserer Partei. Wir haben unglaublich viele Ehrenamtliche, die total viel Zeit reinbringen, mich motivieren und dabei sind. Ich würde es immer wieder machen - und dabei ganz egal bei welchem Ergebnis.

Nehmen Sie uns gerne einmal mit: Wie sieht ihr neuer Wahlkampf-Alltag denn konkret aus?

Also ich habe das Wort „Wahlkampf“ eigentlich überhaupt nicht so gerne, wenn ich ehrlich bin. Ich mache auch total ungerne Wahlkampf. Ich finde es total wichtig - und ich glaube, das brauchen die Menschen auch gerade in einer Phase großer Politikverdrossenheit - ein Angebot zu machen und zu erklären, was wir überhaupt tun. Ich bin für eine Überzeugung angetreten und ich stehe für eine Sache und die versuche ich den Menschen so gut es geht zu erklären. Ich finde es aber auch total wichtig, dass Menschen mit mir über Inhalte diskutieren- und eventuell auch anderer Meinung oder Auffassung sein können. Das finde ich gut, weil das ist unsere Demokratie- Und genau das mag ich nicht an Wahlkampf: Ich möchte meine Position darstellen und die Leute überzeugen und jeder, der möchte, darf sich da einreihen, aber ich möchte die Stimmen nicht erkämpfen.

Womit wollen Sie die Wähler denn überzeugen?

Als Logopädin und Heilmittelerbringerin weiß man - nicht so heftig wie die Pflege - aber auch in meinem Job weiß man, wo im Gesundheitssystem der Schuh drückt. Ich bin jetzt seit 2002 bei den Grünen, und man merkt den Verfall im Gesundheitssystem immer mehr. Das Wort hört sich vielleicht heftig an, weil im Grunde haben wir ein gutes Gesundheitssystem, aber durch die Anreize, die wir setzen, sparen wir es kaputt.

...was seit Beginn der Corona-Pandemie besonders deutlich wird?

Klar, ich könnte jetzt sagen, dass die Pandemie wie ein Brennglas auf die Situation in der Pflege gewirkt hat, das tue ich aber nicht. Weil wir wissen schon so lange, dass die Situation für die Menschen dort immer schlimmer wird. Seit rund fünf Jahren sagt im Prinzip das ganze medizinische Personal, dass es nicht mehr kann. Und klar hat die Pflege während Corona Unglaubliches geleistet - aber das haben die vorher auch schon. Deshalb finde ich es total wichtig, dass man anerkennt, dass diese Leute das schon total lange machen.

Das hat zur Folge, dass viele junge Leute keine Berufe mehr im medizinischen Bereich anstreben. Welche Anreize wollen Sie künftig schaffen, damit sich das ändert?

Wir müssen weg von dem Arzt-zentrierten Modell. Aktuell muss der Arzt dem Pfleger oder der Pflegerin die Anweisung geben, ein Pflaster zu kleben, das dürfen die nicht alleine entscheiden. Wir müssen also dahin, dass das Personal dort mehr berufsrechte bekommt, das ist ein ganz essenzieller Punkt. Wir müssen also die Bandbreite des Pflegeberufs eröffnen, um den Job attraktiver zu machen.

Wie soll das konkret aussehen?

Die Uni Witten-Herdecke hat einen Modellversuch in Leben gerufen namens ‚commutative nursing‘. Kanada und Finnland haben das bereits, da können Pflegekräfte und medizinisches Personal vorgeschaltet zum Arzt eine erste Diagnose stellen.

Welche Anreize sollte es noch geben, um den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten?

Die Pflege ist und bleibt einfach ein Knochenjob, deshalb braucht es hier eine 30-Stunden-Woche bei voller Entlohnung. Das ist eine ganz klare Forderung, die wir haben, dass wir sagen: wer in der Pflege arbeitet - egal ob Kranken- oder Altenpflege - wir brauchen eine 30-Stunden-Woche, weil sonst machen die Leute sich kaputt- Und wir brauchen mehr Gehalt , das ist aber nicht der Faktor, sondern die Leute brauchen mehr Rechte und weniger Arbeitszeiten bei voller Entlohnung.

Kommen wir auf ein ganz anderes Thema zu sprechen: Wenn Sie noch einmal die Möglichkeit hätten, sich zwischen einem Grünen-Kanzlerkandidaten namens Robert Habeck und Annalena Baerbock zu entscheiden: Wen würden Sie wählen?

Ich finde es nach wie vor schade, dass wir uns für einen entscheiden müssen. Ich halte Robert Habeck für einen unglaublich guten Kanzlerkandidaten und Annalena Barbock für eine unglaublich gute Kanzlerkandidatin. Ich glaube, es ist völlig egal, wer es geworden ist: Klar ist, dass diese Fehler gesucht werden. Annalena hat abgeschrieben, das war ein dummer Fehler. Und sie hat auch vergessen, Einkünfte anzugeben, das sind ja keine erlogenen Geschichten, sondern es stimmt beides. Aber wenn man es sich genauer ansieht, stellt man fest: diese Fehler haben und als Partei geschadet, aber niemandem irgendwo einen Euro mehr eingebracht und dennoch wird dieses hohe Maß angesetzt. Was vielleicht ja auch okay ist, aber was ich so schlimm finde ist: andere Parteien bereichern sich mit Maskendeals an Geld oder vergessen, dass sie Cum-Ex-Straftäter davon kommen ließen und sagen: ‘och, habe ich vergessen.’ Ich finde: diese Fehler sind viel schwerwiegender. Und nichtsdestotrotz hat Annalena diese Fehler gemacht, ja. Aber ich finde, das macht sie nicht schlechter.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Qualitäten von Frau Baerbock?

Sie ist inhaltlich unglaublich stark. Und ich glaube, das macht es - ohne sie zu kennen - auch für sie so schwer: Sie macht nicht gerne Fehler. Wenn man sie mal anschreibt oder mal eine Frage hat, kommt eine fachlich fundierte Antwort oder sie holt sich eine Antwort, weil sie sagt: da muss ich jemand anderen fragen. Da ist sie also sehr gewissenhaft. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Fehler passieren und wir müssen Fehler zulassen dürfen, müssen nur offen damit umgehen.

Würden Sie daher nicht vielleicht sogar sagen, dass Herr Habeck nicht vielleicht doch der eher geeignete Kandidat gewesen wäre?

Nein, das ist nicht mein Ansatz. Und zwar deshalb nicht, weil ich glaube, dass jedem Menschen - übrigens über Parteiengrenzen hinweg - Fehler unterlaufen, weil das einfach menschlich ist.

Ein weiteres wichtiges Thema in ihrem Wahlprogramm ist der Klimaschutz: Wie kann konsequenter Klimaschutz gelingen?

Klimaschutz berührt ganz viele Punkte in unserem Leben. Ich war im Laufe der letzten Wochen unter anderem bei einer BP-Raffinerie in Gelsenkirchen oder bei der AHE in Wetter und muss immer wieder feststellen, dass die Unternehmen tolle Ideen haben. Diese Initiative müssen wir viel stärker unterstützen und subventionieren. Dazu ist Klimaschutz natürlich auch ein soziales Thema. Wir wollen natürlich auch weiterhin, dass eine Familie, in der beide Elternteile zum Beispiel Pflegekräfte sind, weiter mit dem Auto fahren kann. Klimaschutz darf nicht als Thema allein stehen, sondern es muss immer mit sozialer Gerechtigkeit und mit der Wirtschaft gehen, weil sonst brauchen wir Klimaschutz nicht betreiben.

Kommen wir noch zum Thema Afghanistan: Wie bewerten Sie derzeit die Situation vor Ort?

Also ich finde es katastrophal, dass es dort aktuell Menschen gibt, die für uns gearbeitet haben und da gerade nicht raus kommen. Da kann man nicht einfach wegschauen und sagen ‘Wir brauchen kein zweites 2015’. Das finde ich nicht nur zynisch, sondern entbehrt sich auch jedweder menschenrechtlicher Grundlage. Ich finde, wir müssen helfen. Und auch, wenn ich gar keine Partei direkt angreifen möchte, bin ich der Meinung, dass der Außenminister Verantwortung übernimmt und es nicht immer wieder zu Schuldzuweisungen kommt. Was mir da gerade am meisten fehlt ist, dass Fehler nicht eingestanden werden.

Nun war es so, dass eine Regierung mit Beteiligung der Grünen den Militäreinsatz Deutschlands im Afghanistan-Krieg vor rund 20 Jahren mit beschlossen hat. Sollte es zu erneuten Überlegungen in diese Richtung kommen: Würden Sie Kriegseinsätze kategorisch ablehnen?

Also ich halte von Kriegseinsätzen nichts. Man muss dafür sorgen - und das gilt nicht nur für Afghanistan - dass diese Staaten, die Schwierigkeiten haben mit Unterdrückung, fehlendem Trinkwasser oder fehlenden Bildungschancen, etwas aufbauen können. Ich würde einen Kriegseinsatz aber niemals einfach so befürworten. Ich wäre aber auch nie kategorisch dagegen. Da würde ich mich mit anderen Menschen aus unserer Partei beraten lassen, weil ich da keinen Fehler machen wollen würde.

Eine letzte Frage mit Bezug auf Ihren Wahlkreis: Welche Herausforderungen sehen Sie in nächster Zeit für Wetter, Herdecke, Witten, Hattingen und Sprockhövel?

Also egal, welchen dieser Orte wir jetzt näher beleuchten, wird immer die Innenstadtentwicklung ein größeres Thema sein. Und da wären wir direkt auch schon bei der Verkehrsentwicklung. Wir müssen es schaffen - das ist aber leider auch schon wieder Landesebene - dass wir tolle Verbindungen mit den Fahrrädern hinbekommen. Da müssen wir den Fahrradverkehr deutlich mehr ausbauen. Ein weiterer Punkt ist der ÖPNV. In der Schweiz gibt es zum Beispiel einen tollen Nahverkehr. Da kommt man schnell von einem Punkt zum anderen, da müssen wir auch hin kommen. Da spielen natürlich auch die Kosten ein Rolle, wo man sich überlegen muss, ob man die nicht vielleicht anders umlegt, dass jeder den ÖPNV sehr günstig oder vielleicht sogar kostenlos nutzen kann. Und ein weiteres großes Anliegen ist mit der Raum für Jugendliche. Hier würde ich mich gerne dafür einsetzen, dass Jugendliche endlich Orte haben, an denen sie auch mal laut und für sich sein können. Das gibt es zum Beispiel in Schweden bereits, wo sich Jugendliche abends in Blockhütten treffen können, Musik hören und sich unterhalten können. Dafür würde ich mich auch hier vor Ort stark machen.

Steckbrief

Ina Gießwein (37) wohnt in Schwelm. Sie ist Mitglied des Kreistags im EN-Kreis und in den Ausschüssen Schule, Bildung, Integration und Soziales, Gesundheit, Inklusion.

Sie ist Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit, und sachkundige Bürgerin für die Grüne Fraktion im Landschaftsverband Westfalen Lippe. Im Rahmen der Vernetzungsarbeit bei den Grünen ist Ina Gießwein zudem Koordinatorin im Team der Ruhr-Vernetzung.

Privat liebt sie Wanderungen in der Natur, mit Familie und Hund. Sie ist Fan der EN-Baskets und unterstützt sie bei der Organisation der Heimspiele. Erholung findet Ina Gießwein auf Reisen, am liebsten als Campingurlaub.