Wetter/Herdecke. Noch ist der Boom wegen Corona bei der Suchtberatung in Wetter und Herdecke ausgeblieben. Das wird sich ändern, ist Jürgen Mühl überzeugt.
Macht die Pandemiezeit Menschen anfälliger für Suchtverhalten? Und wie können Beratungseinrichtungen auf einen möglichen Boom reagieren? Antworten gibt der Herdecker Jürgen Mühl, Leiter der VIA-Sucht- und Drogenberatungstelle der AWO für Wetter und Herdecke.
Zunächst waren Sie abwartend mit Äußerungen über Corona und Suchtverhalten. Sind durch den mittlerweile zweiten Lockdown Erkenntnisse hinzu gekommen?
Jürgen Mühl: Im März/April und dann noch mal im Oktober/November hat es einen Rückgang bei den Erstkontakten gegeben. Wir hören auch immer mehr von sozialer Isolation und Einsamkeit. Es zeigt sich, dass mehr getrunken wird. Hinzu kommen die berufliche Unsicherheit und häusliche Spannungen. Thema ist auch der Umgang mit Langeweile. Bestehende Probleme werden durch die Pandemie verstärkt.
Sind bei der Vermittlung in Therapie-Plätze die Warteschlangen eher länger oder eher kürzer geworden?
Bei Einrichtungen mit Spezialangeboten hatten wir schon immer Warteschlangen. Die sind nach wie vor da. Es werden aber auch Plätze in der so genannten Nahtlosvermittlung von der Entgiftung direkt in die Therapie vorgehalten. Hier bekommen wir Klienten innerhalb von vier bis fünf Wochen gut stationär unter.
Wie sieht es aus bei Spielsucht?
Auswirkungen der Pandemie bekommen wir im Moment noch nicht so mit. Wir gehen jedoch davon aus, dass das Spielen im Internet zunimmt. Gesundheitliche Probleme treten dabei ja deutlich später auf als bei Alkohol oder Drogen. Glücksspiel und auch exzessiver Medienkonsum werden vermutlich mit Zeitverzögerung sichtbar werden. Wenn sich alles wieder ein wenig normalisiert hat, rechnen wir verstärkt mit Anfragen.
Was heißt das mit Blick auf die Kinder, die vielfach seit Anfang Dezember morgens beim Home-Schooling an Rechnern und Tablets sitzen und dann nachmittags nahtlos weiter daddeln?
Für eine Suchtentwicklung sind verschiedene Faktoren wichtig. Ein Faktor ist, über welchen Zeitraum man regelmäßig in kurzen Zeitabständen konsumiert. Wer täglich im Internet spielt, entwickelt dabei eine Gewohnheit, und daraus kann sich schnell eine Sucht entwickeln. Die Griffnähe spielt dabei auch eine Rolle, also die Frage, wie leicht wird mir das Konsumieren gemacht. Die Versuchung und damit das Suchtrisiko ist ohne weite Wege deutlich größer als bei Zugangsbarrieren wie etwa Unterricht in der Schule oder andere Freizeit-Verpflichtungen.
Beratung in den Schulen war ja in den letzten Monaten nicht. Wird das Spätfolgen haben?
Für uns die Arbeit in den Schulen Frühintervention. Hier können wir vielleicht noch etwas später als gewohnt intervenieren. Durch die fehlenden Kontakte kann es bei einzelnen Schülern durchaus sein, dass sich nicht nur die Suchtproblematik und die Konsumproblematik verschärft, sondern auch die psychische Belastung.
Der Boom ist noch nicht da, aber es gibt Anzeichen für eine zeitliche Verzögerung. Wenn es mehr Süchtige gibt – ist mit dem Ausbau der Suchtberatung zu rechnen?
Bis solche Entscheidungen durch wären, würde es sicher ziemlich lange dauern. Für uns ist das Thema Stellenaufstockung aktuell also keines. Wir bereiten uns auf den Ansturm aber vor etwa durch eine kurzfristige Umstrukturierung hin zu mehr Gruppenangeboten. Im Jahresbericht werden wir aufzeigen, wo sich beim Bedarf etwas verändert hat, und dann mit Politik und Verwaltung diskutieren. Was wir brauchen, sind Fakten. Auf Vermutungen und Befürchtungen wird nicht reagiert.
Das wäre dann ein mehrfacher zeitlicher Verzug…
Im Moment gibt es im Gesundheitswesen sicher Bereiche, in denen die Auswirkungen der Pandemie deutlich stärker sind als in der Suchthilfe. Wenn jetzt verstärkt Anfragen kommen, werden wir pragmatisch darauf reagieren. Also: Wie weit sind Wartelisten nötig, was lässt sich in Zusammenhang mit anderen Einrichtungen tun für ein schnelles Vermitteln? Dazu kann dann auch einmal Mehrarbeit über ein paar Wochen zählen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das Team pragmatisch agieren kann, so dass wir keinen, der anfragt, unversorgt lassen müssen.