Wetter/Herdecke. Hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf den Rauschmittel- oder Medienkonsum? Suchtberater Jürgen Mühl hat dazu Folgendes beobachtet.

Arbeitsplatzverlust und Zukunftssorgen, Angst um die Gesundheit sowie stark eingeschränkte soziale Kontakte – bei vielen Menschen hat die Corona-Pandemie die eigene Welt aus den Angeln gehoben. Zur Entspannung und Beruhigung, um Sorgen und Ängste zu vertreiben, greifen viele in Krisenzeiten vermehrt zu Rauschmitteln. Ob es einen Zusammenhang zwischen Corona und Sucht gibt, darüber hat die Lokalredaktion mit Jürgen Mühl, dem Leiter des AWO-Beratungszentrums für Suchtfragen und Suchtprävention VIA, gesprochen.

Haben bei Ihnen während des Lockdowns mehr Menschen als sonst Hilfe oder Rat gesucht?

In der Zeit des Lockdowns haben wir relativ wenig Neukontakte registriert. Danach sind es deutlich mehr geworden, so dass wir nun im Monat sogar etwas über dem Niveau des Vorjahres liegen. Im Zeitraum von Januar bis September 2020 hatten wir im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 25 Klienten mehr. Dabei darf man nicht vergessen, dass es Klienten gibt, die im Moment ungern zu uns kommen. Etwa wenn sie COPD haben und mit dem Bus aus Herdecke hierher nach Wetter kommen müssten. Für diejenigen bietet sich der Kontakt per Telefon an. Außerdem haben wir inzwischen eine datensichere App für kurze Infos, und wir machen Hausbesuche, wenn es nicht anders geht.

Also hat Corona suchtkranken Menschen gar nicht so zugesetzt?

Wir haben den Eindruck, dass die Klienten, die wir hatten, die Krise weitgehend ohne zusätzliche Belastung geschafft haben. Dabei sind wir ja nicht nur Anlaufstelle für Menschen mit Alkoholproblemen, sondern auch zusätzlich mit Depressionen, Angststörungen und mehr. Einer unserer Klienten mit einer Angststörung hat allerdings drei Monate seine Wohnung nicht verlassen. Aber das ist die Ausnahme. Und wer schon vor Corona ein Suchtproblem hatte, war ohnehin in seinen Kontakten oft eingeschränkt, so dass sich nicht so viel verändert hat. Und ob sie nun ohne oder mit Maske ins Geschäft gehen und Alkohol kaufen, das macht am Ende keinen Unterschied. Es gab generell nicht so viel Verunsicherung, auch was die Regeln in unserer Einrichtung betrifft. Wobei es ja darum geht, auch unsere Klienten zu schützen.

Können Sie zu diesen Regeln etwas sagen? Wie haben Sie während des Lockdowns gearbeitet, und wie arbeiten Sie jetzt?

Zu Beginn des Lockdowns war unsere Beratungsstelle geschlossen. Wir haben dann im Homeoffice die Digitalisierung voran gebracht, ein Mitarbeiter war aber immer vor Ort. Wir haben in der Zeit, also bis etwa Ende April, alle Beratungen telefonisch geführt. Dann haben wir den Betrieb vor Ort wieder aufgenommen, aber in Kombination mit Homeoffice. Hier gibt es jetzt Spuckschutze für die Beratungen sowie ein Hygienekonzept, wozu auch das regelmäßige Lüften der Räume gehört. Schwierig war es zu Beginn des Lockdowns auch, Klienten in eine stationäre Therapie zu vermitteln. Bis die Rentenversicherungen ein vereinfachtes, sogenanntes Nahtlos-Verfahren aufgelegt haben. Da wird während der Entgiftung ein Antrag auf Reha gestellt, damit die Patienten direkt danach in die Therapie können. Das konnten wir mit einer Reihe von Patienten durchführen. Die mussten natürlich nachweislich Corona-frei sein oder zunächst in Quarantäne. Wir haben hier eine Zunahme von Vermittlungen in stationäre Therapien registriert.

Sie bieten auch Sprechstunden in Schulen und im Herdecker Krankenhaus an...

Die Schulsprechstunden haben etwas länger nicht stattgefunden. Auch die Rückfall-Prophylaxe-Gruppe, die sich immer hier trifft, wurde ausgesetzt. Sie ist ab Ende Juni wieder gestartet. Auch in den Schulen sind die Stunden langsam wieder angelaufen, da sind wir jetzt wieder regelmäßig präsent. Nur kurzzeitig haben wir die Sprechstunde in der Klinik unterbrochen. Sie findet freitags vormittags statt, unter Einhaltung aller Schutzregeln. Natürlich mussten auch die Selbsthilfegruppen pausieren. Da fehlten den Menschen die Gruppe und der Austausch. Wir haben versucht, das in akuten Krisensituationen telefonisch aufzufangen.

Corona und Sucht – wie lassen sich Ihre Beobachtungen also zusammenfassen?

Wir können jetzt noch nicht einschätzen, was sich verändert hat. Sozialkontakte sind weniger, soziale Isolation größer geworden, und Treffs im öffentlichen Raum wurden eingeschränkt. Inwieweit sich das negativ auf unsere Klienten ausgewirkt hat, können wir jetzt noch nicht sagen. Fakt ist, dass wir keinen Corona-positiven Klienten haben. Also bislang gab es bei ihnen keine nachgewiesene Infektion. Vor dem Hintergrund, wie die sich in ihrer Szene bewegen, ist das nicht ganz unwichtig. Und es gab wohl zu Beginn des Lockdowns mal Versorgungsprobleme mit Rauschmitteln wegen der geschlossenen Grenzen. Nicht in unserer Region, aber in Großstädten, was wohl zu leichten Preiserhöhungen geführt hat.

Lässt Corona die Zahl der Menschen mit Mediensucht steigen?

Es ist zwar ein zunehmendes Thema, aber in Bezug auf Corona nicht. Grundsätzlich haben wir eine Reihe von Klienten, die Probleme mit sinnvoller Freizeitgestaltung und viel Langeweile haben. Da verändert Corona nicht viel. Zudem tauchen bei einer Mediensucht die sozialen Folgen nicht so auf wie bei Rauschmitteln. Bei Mediensucht machen sich die Folgen eher innerhalb der Familie bemerkbar. Ob es da zusätzliche Konflikte gegeben hat, das haben wir nicht mitbekommen. Aber das kann uns vielleicht zeitversetzt erreichen. Mediensucht ist ein Zukunftsthema, und ich gehe davon aus, dass die Probleme zunehmen werden. Mediensucht bezieht sich auf Internetrollenspiele und inzwischen auch auf Glücksspiele, die sich im Internet viel einfacher und unkomplizierter spielen lassen. Und nicht zuletzt gehören auch die Probleme mit sozialen Netzwerken dazu. Alle drei Punkte betreffen Jugendliche, aber mittlerweile auch Erwachsene.

Auch interessant

Gibt es Pläne für Zukunft?

Ja, die gibt es. Wir wollen die Frühintervention, so heißt unser Angebot in den Schulen, ab dem kommenden Jahr anders, auch digitaler gestalten. Die Digitalisierungsprozesse werden durch Corona beschleunigt. Ab nächstem Jahr werden wir verstärkt eine Online-Beratung einsetzen und auch mit Youtube und Instagram arbeiten, um bestimmte Zielgruppen zu erreichen und für unsere Angebote zu werben. Wir werden auf Postkarten für unsere Online-Beratung werben; sie sind mit einem QR-Code versehen, über die Jugendlichen direkt auf unsere Web-Beratung geleitet werden. So müssen sie nicht mehr warten, bis wir mal wieder in der Schule sind. Es lässt sich also sagen, dass Corona die Digitalisierung bei uns beschleunigt. Wir und auch andere Beratungsstellen kommen nicht drum herum, uns damit zu beschäftigen. Wir müssen aber auch sehen, wo die Grenzen der Digitalisierung sind; denn Medien sollen den Face-to-Face-Kontakt nicht überflüssig machen. Wir müssen das kombinieren und vor allem eine gesunde Mischung finden.

Zur Person

Jürgen Mühl, Jahrgang 1956, lebt seit seinem ersten Lebensjahr in Herdecke.

Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er zunächst angestellt bei der Evangelischen Kirchengemeinde Herdecke.

Seit 1986 ist er beim AWO Unterbezirk Ennepe-Ruhr im heutigen VIA AWO-Beratungszentrum für Suchtfragen und Prävention beschäftigt. Die Einrichtung ist für die beiden Ruhrstädte Wetter und Herdecke zuständig und hat ihren Sitz in der Bismarckstraße 32 in Wetter.

Jürgen Mühl ist verheiratet. Er hat zwei Kinder und eine Enkeltochter.