Herdecke. Wer heute in die Beratung geht, verschweigt das nicht mehr. Willi Wolf von der GVS-Beratungsstelle in Herdecke nennt noch mehr Veränderungen.
Willi Wolf wäre gerne Lehrer geworden. Aber als Stotterer? Eine Selbsthilfegruppe hat ihm im Studium der Erziehungswissenschaften genügend Selbstbewusstsein gegeben, einen Job zu versuchen, in dem viel geredet werden muss: 33 Jahre ist er jetzt schon Berater bei der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des GVS in Herdecke. Ein Gespräch über das, was sich getan hat in dieser Zeit.
Was hat sich verändert in über drei Jahrzehnten Beratungsarbeit?
Willi Wolf: Die Themen sind nahezu gleich geblieben, die Inhalte aber haben sich stark verändert, weil sich die Welt verändert hat. Die Technisierung der Welt hat Familienleben verändert...
Was genau hat sich verändert?
Es gab früher das Telefon mit der Wählscheibe und den Fernseher und vielleicht noch Musik, die die jungen Menschen abgelenkt hat. Ansonsten hat man sich noch irgendwo getroffen. Man hat miteinander gesprochen, hat Freizeit miteinander verbracht. Freizeit ist mittlerweile ein hohes Gut geworden. Durch die Globalisierung sind verstärkt auch Mütter unter Druck geraten, mehr arbeiten zu müssen. Durch Betreuungsangebote konnten die Eltern zwar besser arbeiten gehen - mit der Folge, dass jetzt viel, viel mehr Menschen arbeiten gehen, aber auch weniger Zeit haben. Die verbleibende Zeit wird dann so verplant, dass Kinder überhaupt keine freie Minute mehr haben. Es bleibt wenig Zeit, sich mal zu langweilen. Kinder dürfen sich nicht mehr langweilen. Das finde ich ganz schrecklich. Man verliert die Kunst, sich seine Zeit zu vertreiben. Aus Langeweile kann Kreativität entstehen. Zeit wird zum raren Gut - und gleichzeitig vertan.
Hat Beratung ein anderes Image bekommen?
Als ich 1987 angefangen habe, haben sich viele Menschen geschämt, zu uns zu kommen. Sie haben niemandem etwas darüber erzählt, dass sie bei uns waren. Heutzutage gehen die Menschen offen damit um und erzählen ihren Nachbarn und Freunden davon, dass sie hier waren. Die meisten machen gute Erfahrungen, und so ist die Mund-zu-Mund-Propaganda unser größter Freund geworden, der uns die Menschen zuspielt.
Wird mehr Angebot erwartet?
Die Aufgabenfelder haben sich vermehrt. So haben wir zum Beispiel vor anderthalb Jahrzehnten die Beurteilung bei Kindeswohlgefährdung hinzu bekommen. Wir stellen die „insofern erfahrene Fachkraft“, die einschätzen muss, ob eine solche Gefährdung vorliegt oder nicht. Wir gehen bei Verdachtsmomenten in Kindergarten, Schule oder Sportverein in die Einrichtung und sind die Ersten noch vor den Jugendämtern.
Gibt es aus Ihrer Sicht genügend Beratungsangebote?
Wir sind nicht die Einzigen unter der Sonne, und das ist auch gut. Die Menschen können entscheiden, ob sie zu uns kommen wollen oder zu einer anderen Beratungsstelle. Das kann beim Kirchenkreis in Hagen sein oder beim Ennepe-Ruhr-Kreis. Die Nachfrage ist immer mehr geworden. Wir sind nicht am Limit, aber wenn jetzt noch viel dazu kommt, sind wir mit unserer Kapazität wirklich am Ende.
Macht Corona mehr Beratung und Berater nötig?
Das haben wir hier nicht bemerkt. Es war sogar so, dass wir nach dem Lockdown und der Schließung der Beratungsstelle auf das rein telefonische Angebot hin weniger Anfragen hatten. Das hat mehr für die sogenannten „Krisengespräche“ gereicht. Wir hatten zunächst auch befürchtet, dass wegen des engen Miteinanders in den Familien mehr Beratungsbedarf da ist. Zumindest in Herdecke und Wetter ist das nicht so passiert. Er war sogar so, das manche Familie, die ich als „hochstrittig“ angesehen hätte, die Rückmeldung gegeben hat, dass Corona sie auf sie selbst zurück geworfen hat und sie es hinbekommen haben, vernünftiger und ruhiger miteinander zu leben.
Warum sind Männer für die Beratung wichtig?
Zu uns hier kommen zwar verstärkt Frauen, und viele Männer, wenn sie denn kommen, kommen eher mit. Wenn Frauen dann nur mit Frauen sprechen, es aber um Familie geht, also auch um ihre Söhne und ihre Ehemänner, dann fehlt ein gewisser Anteil. Daher kann es wichtig werden, dass auch ein männlicher Part da sitzt und sich in die Situation von Jungs und Vätern einfühlen kann.
Was ist für Sie ein echtes Erfolgserlebnis?
Zwei Klienten fallen mir spontan ein: Eine Mutter kam und hatte ganz viele Probleme im Erziehungsbereich, und ich habe ihr in zwei Gesprächen den Unterschied zwischen Konsequenz und Strafe erklärt. Sie kam und freute sich: Mein Sohn „funktioniert“ jetzt ganz anders. Das hat alles wunderbar geklappt. Das andere war ein Elternpaar, das kurz vor der Trennung stand und sich in der Beratung tatsächlich dahin entwickelt hat, zusammenzubleiben. Das hat richtig gut getan. Das ist etwas, wo mir der Rücken wächst.
Was frustriert Sie am meisten bei der Arbeit?
Menschen, die nicht wiederkommen und mir und sich nicht die Chance geben, irgendetwas zu verändern - aber dann sagen: Die Beratungsstelle hat mir auch nicht geholfen. Das ärgert mich maßlos.
Wenn ein Berater seine Arbeit schlecht macht, was können die Folgen sein?
Dass eine Familie leidet, dass ein Kind leidet, dass vielleicht nicht erkannt wird, welche Möglichkeiten es gegeben hätte, um effektiv helfen zu können, dass man jemanden noch hätte weiter verweisen können etwa an die Jugendpsychiatrie, an einen Therapeuten - wo man das nicht erkennt, verlängert man Leiden. Das kann, wenn es ganz, ganz schlimm ist, dazu führen, dass sich jemand für einen Suizid entscheidet.
Wie wichtig ist Vernetzung?
Austausch ist immer ganz, ganz wichtig, gerade wenn man aus einem Gespräch kommt, das sehr belastend war, wo man sagt: Die haben da gerade was abgeladen bei mir - hast du mal fünf Minuten Zeit zum Zuhören und Loswerden? Einmal die Woche haben wir unsere Teamgespräche für Fälle, wo wir uns gerne eine zweite Meinung einholen. Und: Zwei Freunde von mir arbeiten in Erziehungsberatungen, und wenn wir uns treffen, kann man sich auch da mal austauschen - natürlich ohne Namensnennung der Klienten. Vier Mal im Jahr haben wir zudem eine Supervision, in der wir Fragestellungen noch einmal vertiefen können, um nicht nur im eigenen Suppenteller schwimmen.
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