Man schreibt den 6. April 1933. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hält einen Vortrag mit dem Thema „Die Kirche vor der Judenfrage“, kurz nach der Machtergreifung Hitlers, wenige Tage nach dem Boykott jüdischer Geschäfte und einen Tag vor Inkrafttreten des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Die Worte klingen schön, die Sache bleibt hässlich und wird kurz „Arierparagraph“ genannt.
In seinem Vortrag beschreibt er drei Aufgaben für die Kirche in ihrem Handeln gegenüber dem Staat. Die erste besteht darin, den Staat beharrlich auf den legitimen Charakter seines Handelns zu befragen. Die zweite fordert, allen Opfern staatlichen Handelns beizustehen, unabhängig davon, ob sie zur christlichen Gemeinde gehören. Die dritte Aufgabe besteht darin, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu greifen“. Das unmittelbare politische Handeln der Kirche ist widersprechendes und widerstehendes Handeln.
Wie sieht das aus, wenn die Kirche in diesen Tagen das legitime Handeln des Staates befragt? Nein, hier ist nicht Corona gemeint, sondern wahrhaft weltweit ökumenisch, das Handeln der Trumps, Putins, Erdogans, Lukaschenkos, Orbans, Dudas und wie sie alle heißen mögen. Da, wo sich politische Potentaten des Staates und seiner Ordnung bemächtigen, sich und ihre Cliquen schamlos persönlich bereichern, die Öffentlichkeit ohne Skrupel belügen, brutale Gewalt ausüben, internationales Recht missachten, Wahlen und Wahlergebnisse manipulieren und Kriege vom Zaun brechen.
Und fast immer ist es die Religion, die in diesen Fällen instrumentalisiert wird. Der politische Kampf wird zu einem Glaubenskampf stilisiert. Die große Mehrheit der Evangelikalen in den USA sind treue Anhänger von Donald Trump. Ihre besonders rigide Sexualethik stört sich dabei nicht daran, dass der Präsident zum dritten Mal verheiratet ist und gelegentlich Pornodarstellerinnen und Prostituierte mit hohen Geldsummen zum Schweigen bringen musste. Sein Gegenüber Putin weiß sich in allem der Unterstützung der Orthodoxen Kirche sicher, der Ungar Orban verteidigt angeblich das europäische Christentum, in Polen steht die Katholische Kirche stramm an der Seite der Nationalkonservativen, die einzelne Städte als Schwulen- und Lesbenfrei ausrufen lassen. Dabei werden oftmals antisemitische Untertöne platziert. Besonders infam ist die Wiedereröffnung der Hagia Sophia in Istanbul als Moschee. Hier soll nicht nur eine lange und wichtige Epoche christlicher Kirchengeschichte ausgelöscht werden. Bei der Zeremonie steht vorne ein Sultansverschnitt mit einem blanken Schwert. Präsident Erdogan proklamiert mit dieser martialischen Geste den endgültigen Sieg des Islam über das Christentum.
Das Handeln des Staates auf seine Legitimität im Sinne Bonhoeffers zu befragen, heißt, den theologischen Unfug, der von Seiten der Mächtigen und ihrer Getreuen verbreitet wird, beharrlich und schonungslos offenzulegen. Hier sind die Gläubigen nach ihren Glaubensüberzeugungen, ihrem Bekenntnis und ihrer Ethik gefragt.
Darüber hinaus ist Zeugenschaft gefordert, die sich denen zuwendet, die bei dieser Art der Religionisierung von Politik unter die Räder kommen. Zeugenschaft heißt im Urtext Martyria. Und wieder muss vor einem populären Missbrauch gewarnt werden. Ein Märtyrer ist der, der um seines Glaubens oder seiner Überzeugung willen Leid auf sich nimmt, und nicht der, der anderen Leid zufügt. Wer sich mit anderen in die Luft jagt, ist kein Märtyrer, sondern ein Verbrecher.
Nun ist wahrlich nicht jeder zum Widerstand unter Bedrohung des eigenen Lebens geboren. Dietrich Bonhoeffer als Märtyrer des 20. Jahrhunderts legt aber die Spur, in der die Kirche und jeder Christenmensch, eigentlich auch jeder Mensch anderer Religion oder Überzeugung gehen kann. Sich mit den Opfern solidarisieren und widersprechen. Das ist das Mindeste.
Dr. Horst Hoffmann lebt in Ende und ist Pfarrer am Mulvany Berufskolleg in Herne