Wetter. Lutz-Peter Lührmann kritisiert den Umgang mit Tests oder Desinfektionsmitteln: Risikogruppen brauchen Schutz, nicht die breite Masse.

Lutz-Peter Lührmann ist Tropenmediziner und Leiter des Gesundheitsamtes, bevor er als Betreiber von Seniorenheimen in die Privatwirtschaft ging. Zu seinem Verbund zählen Seniorenresidenzen, Wohngemeinschaften, Tagespflegeeinrichtungen und Ambulante Pflegedienste in Wetter ,Witten, Lünen und Menden . Hier in Wetter und Witten unterhält er auch weiter eine reisemedizinische Beratungsstelle mit Gelbfieberimpfstation. „Wir verballern unsere Ressourcen an der falschen Stelle“, so lautet sein Hauptvorwurf zum momentanen Umgang mit Covid-19. Er hält eine Herdenimmunisierung für unumgänglich. Sterilisationsmittel oder Tests müssten viel gezielter eingesetzt werden, fordert er im Gespräch mit der Redaktion, vorrangig zum Schutz der medizinischen Helfer und der Senioren und Vorerkrankten.

Was ist richtig am aktuellen Umgang mit dem Coronavirus?

Lutz-Peter Lührmann: Richtig ist, dass die Ausbreitung der Infektion konsequent bekämpft wird. Dazu zählen auch die aktuellen Einschränkungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgehverbote wie in anderen Bundesländern aber halte ich für falsch. Der Virus wird nicht durch Herumlaufen in der Gegend übertragen sondern nur durch Menschen, die sich gegenseitig treffen. Die Einschätzung der Experten aber, dass es eine explosionsartige Verbreitung geben wird, hat sich bewahrheitet.


Wie sollte es weitergehen?
Das Kappen der Kurve, die wie eine Rakete nach oben schießt, war richtig. Wir werden mit dem Virus aber mit Sicherheit ein oder anderthalb Jahre zu tun haben. Sobald wir die Maßnahmen lockern, wird die Kurve wieder ansteigen. Vermutlich bekommen wir eine Art Welle bei den Zahlen. Das wird sich nicht verhindern lassen. Was wir brauchen, ist eine sogenannte Herdenimmunität. Zum Loswerden muss das Virus mindestens zwei Drittel der Bevölkerung kennenlernen. Das müssen wir auch zulassen jetzt vor den wärmeren Monaten.

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Massenweise Neuinfizierungen wären im Herbst oder Winter wesentlich gefährlicher. Wichtig: Die Allermeisten werden das Virus kennenlernen, es aufnehmen – und nicht krank werden.


Was muss künftig anders laufen?
Wir müssen den Schalter umlegen. Ich war jetzt im Supermarkt einkaufen. An der Kasse war die Verkäuferin durch ein Riesenplexiglas geschützt (was ich richtig finde ), dazu durch einen Mundschutz und Latexhandschuhe. Nach der Geldannahme hat sie sich die Hände desinfiziert, die Latexhandschule trugen. Wo sind wir eigentlich?! Denn gleichzeitig wissen wir für unsere Einrichtungen nicht, wie wir an Desinfektionsmittel kommen sollen. Es kann doch nicht sein, dass wir unsere begrenzten Ressourcen in Sachen Desinfektion, wie auch Mundschutz,Kleidung und Virusnachweisteste in der Bevölkerung „verballern“, die aus meiner Sicht bzw. Virus epidemiologischer Sicht eigentlich langsam ansteigend krank / infiiziert werden müsste. Aber für die, die unbedingt geschützt werden müssen , die über 80-Jährigen oder die kritisch Vorerkrankten, für deren Abschottung fehlt es an den dringend notwendigen Materialien.

Wie sehen Sie das bei den Tests?Auch die werden verballert. Beispiel: Meine Tochter arbeitet bei uns in der Pflege. Am Samstag ist sie aus Spanien zurück gekommen. Ich kann sie doch nicht einfach so arbeiten lassen. Für das Gesundheitsamt aber gilt sie als gesund. Wenn sie Symptome hätte oder schwer krank wäre, dann würden wir einen Test machen, so die Auskunft. Da kommt jemand aus „Timbuktu“ und hustet, und der erhält einen Test. Und wenn eine Pflegekraft wieder kommt, die gebraucht wird, die bekommt keinen und gefährdet am Ende die, die am meisten geschützt werden müssen. Krankenhäuser und andere stationäre Einrichtungen müssten die Tests haben in dem Maße, wie sie gebraucht werden – und falls dann noch etwas übrig ist, kann das natürlich in die Bevölkerung geben werden.


Fürchten Sie um die Ihnen anvertrauten Senioren?
Ja, weil ich meine Schutzmaßnahmen nicht optimieren kann. Wir müssen uns endlich auf die konzentrieren, die wirklich zu schützen sind. Von uns aus werden wir den Schutz in den nächsten Monaten nicht lockern, sonst bekomme ich das Virus ins Haus.

Es gibt bei Ihnen noch Neuaufnahmen?
Ja, allerdings unter großen Schutzmaßnahmen. Die Menschen müssen aus den Krankenhäusern raus.


Wie denken Sie über Aktionen wie jetzt kürzlich das Akkordeonspiel für die Bewohner über den Gartenzaun hinweg?
Das war ein willkommenes Angebot von Herrn Koch, das wir nächsten Montag in Wetter noch einmal wiederholen werden. Die Bewohner brauchen Ablenkung. 19 Grad sind vorher gesagt. Super Wetter!

Wie sonst lässt sich der Isolation und dem Frust und womöglich auch der Depression begegnen?
Jedenfalls nicht mit einem Abbau des Sozialen Dienstes, wie manche Heime das gemacht haben. Die machen jetzt nur noch „satt, sauber, trocken“. Wir dagegen haben den Sozialen Dienst aufgestockt. Der hat jetzt mehr zu tun als vorher. Die Bewohner können nicht mehr raus. Und was viel schlimmer ist: Sie bekommen keinen Besuch mehr. Also machen wir jetzt mehr Veranstaltungen und das in kleineren Gruppen. Das Personal bestreitet musikalische Nachmittage, von mir als ehemaligem Theologiestudenten gibt‘s eine Predigt im Gottesdienst.


Sie waren doch auch im öffentlichen Gesundheitswesen beschäftigt – halten Sie die Gesundheitsämter für einigermaßen vorbereitet für eine Pandemie dieses Ausmaßes?
Es gibt große Unterschiede zwischen den Kreisen. Manche Gesundheitsämter sind wenig vorbereitet, andere dagegen gut. Wir machen beste Erfahrungen mit dem Gesundheitsamt im Kreis Unna, zu dem unser Haus in Lünen zählt. Die waren immer hervorragend aufgestellt. Wenn wir Mundschutz brauchen oder Desinfektionsmittel , können wir den da bestellen und erhalten es auch. Im EN-Kreis bekomme ich nichts.