Herdecke. Jeder der alten Herren am Stammtisch hat das Ende der Kampfhandlungen anders erlebt. In Herdecke marschierten die Amerikaner ein.

So viel Brutalität, so viel Leid. Eigentlich will Heinz Badziong über den Krieg gar nicht mehr reden. 98 Jahre jung ist er und damit der Älteste in der Runde, die sich jeden Tag in einem anderen Her­decker Café trifft. Die Jüngeren waren meist noch Kinder, als in Deutschland endlich die Waffen schwiegen. Heinz Kühnholz weiß noch genau, wie die Amerikaner in Herdecke die Hauptstraße hinunter kamen, eine Kolonne von Panzern, eskortiert von schwer bewaffneten Soldaten zu Fuß. Jeder am Stammtisch hat das Ende des Krieges anders erlebt und beinahe jeder auch an einem anderen Tag. Der Neuanfang, die oft so genannte „Stunde Null“, hat vielerorts schon vor dem 8. Mai 1945 geschlagen.

Werner Tyborczyk (92) hat auf einem Zettel notiert, was er vom 23. März 1945 in Herdecke in Erfahrung gebracht hat: Mit den Amerikanern war vereinbart, dass am höchsten Punkt der Stadt, im Turm der Stiftskirche, eine weiße Fahne gehisst werden sollte. Zeichen der Kapitulationsbereitschaft. Aber ein Oberfeldwebel sorgte mit gezückter Waffe dafür, dass das Tuch wieder verschwand. Die Folge: nächtliche Bombardements. Heinz Kühnholz ist es wie eine Bestrafung vorgekommen, dass das Haus des linientreuen Nazi am nächsten Morgen mit in Schutt und Asche lag.

Geschichten vom Krieg sind nicht Tabu

Dieter Krüger war gerade mal sechs Jahre alt, als die Amerikaner in Herdecke einmarschierten. Die Angst war groß. Mit seinem Spielgewehr aus Holz trat er den Ankömmlingen entgegen, die Familie zu verteidigen. „Ich wurde in eine Ecke gestoßen. – Das war alles“, scheint Krüger sich heute noch zu wundern: „Die haben sich korrekt verhalten.“

Heinz Kühnholz fällt eine andere Geschichte ein. An der Luthereiche, dem ausladenden Baum zwischen Stiftskirche und heutigem Rathausanbau, haben die US-Soldaten gestanden und gegrillt. Neugierig und neidisch hat der Steppke zugesehen: „Die hatten Fleisch!“

Nein, der Krieg ist kein Tabu-Thema in der Runde. Und natürlich wird schon mal auch von dieser schweren Zeit erzählt. Aber ein bisschen ausgebremst hat sich Heinz Badziong vor ein paar Wochen schon gefühlt, als er sich Erlebnisse aus der Kriegszeit von der Seele reden wollte. Sein Geleitschiff hatte einen Maschinenschaden und lag in Hamburg in der Werft. Die Besatzung war im Bunker, als ein nächtlicher Angriff die U-Boote gleich neben dem Schiff traf und damit deren Männer an Bord. Glück gehabt habe er auch in den letzten Tagen des Krieges. Dazu zählte, dass die Kanadier die Kontrolle übernahmen und nicht die Russen. Und auch Gefangenschaft blieb Badziong erspart.

Adi Möller ist in den achtziger Jahren nach Herdecke gekommen. Das Kriegsende erlebte er in der fast vollständig zerstörten Stadt Kassel in einem Bunker. In der Nacht nach dem Einmarsch der Amerikaner konnten er, sein Bruder und die Mutter „das erste mal wieder richtig durchschlafen.“ Im Bunker in Rathenow in der Mark Brandenburg war auch für Klaus Imle der Krieg vorbei. Danach ging’s als Flüchtling ins Bergische Land, nach Hückeswagen, zur Großmutter.

Die Kämpfe waren eingestellt, die Kapitulationsurkunde war unterschrieben. In Herdecke setzten die Amerikaner Karl Kemmerich als Bürgermeister ein. „Damit haben die Plünderungen aufgehört, und was nicht zerstört worden war, begann direkt wieder mit der Produktion“, hat Kemmerichs Sohn Jürgen jetzt noch Heinz Kühnholz berichtet. Weil er gerade auf Reisen ist, kann der Bürgermeistersohn die Geschichte nicht selbst am Stammtisch erzählen.

Kein Gefühl von einer „Stunde Null“

Von der „Stunde Null“ ist im Nachhinein von dieser Zeit oft die Rede gewesen. Kann jemand in der Runde mit diesem Begriff etwas anfangen, den Historiker gerne gebrauchen, aber auch kritisch hinterfragen? Für eine „Stunde Null“ habe er jedenfalls keine Zeit gehabt, antwortet Werner Tyborczyk. Klaus Imle sagt der Begriff wenig. Den könnten sich nur irgendwelche Besserwisser ausgedacht haben, sagt Imle. Sein Vater war noch in russischer Gefangenschaft. Am Ende bis 1949. Wie solle da für ihn so etwas wie Stillstand oder ein vollständiger Neustart möglich gewesen sein?

Die Deutschen waren geschlagen. Soldaten aus anderen Ländern hatten das Sagen. Haben sich die Jungs und jungen Männer von damals als Verlierer gefühlt oder als Gewinner? „Beides“, sagt Adi Möller. Als Verlierer wegen des Kriegsausgangs, als Gewinner, „weil wir überlebt hatten.“ Und Heinz Badziong ergänzt: „Und wir hatten das Riesenglück, dass sich in der Folge Amerikaner und Russen nicht verstanden haben.“ Der Kalte Krieg ist daraus erwachsen und hat viele politische Diskussionen befeuert. Er war gerade zu Ende gegangen, als in Herdecke eine Herrenrunde damit begann, sich jeden Werktag in einem anderen Café zu treffen. Und bis heute liefern große Politik und das Geschehen vor der eigenen Haustür Gesprächsstoff für Stammtisch-Geschichten. Diese hier soll - in der Zeitung jedenfalls - die letzte gewesen sein.

Auch interessant