Herdecke. Der Grabstein der Familie Witteborg weckt Erinnerungen an das 1894 eingerichtete Königliche Evangelische Lehrerseminar in Herdecke.

Nicht immer stand der Grabstein der Familie Witteborg so isoliert auf der untersten Ebene des Friedhofs Zeppelinstraße. Erst der Plan aus den 1960er Jahren, den Friedhof langfristig aufzugeben und in einen Park umzugestalten hat die heutige Situation geschaffen: Zahlreiche Grabstätten wurden aufgegeben und nicht wieder vergeben.

Es handelt sich auch nicht um einen besonders imposanten, schönen oder künstlerisch wertvollen Grabstein, im Gegenteil, der Stein ist einer, wie es viele auf dem historischen Herdecker Friedhof gegeben hat. Es handelt sich um einen Grabstein aus ‚Schwarz-Schwedisch‘, ein besonders festes Hartgestein, auf Sandsteinsockel, seine Kanten sind bossiert, die vordere Fläche geschliffen, die Schrift gehauen. Der neugierige Besucher des Friedhofs ist sofort hellwach, wenn er diesen Stein zum ersten Mal bewusst wahrnimmt. Das hängt mit einem einzigen Begriff zusammen, den er auf dem Stein liest: ‚Königlicher Musikdirektor‘.

„Studenten-Flair“ in Herdecke

Wie um Teufels willen kommt ein ‚königlicher Musikdirektor‘ nach Herdecke und ist hier beerdigt? Aber genau dieser Titel führt uns auf die Spur der Geschichte der Familie Witteborg und erinnert an eine für die Entwicklung der Stadt wichtige Einrichtung, dem 1894 von der preußischen Regierung eingerichteten ‚Königlichen Evangelischen Lehrerseminar‘, an dem in den 32 Jahren seines Bestehens rund 1.000 evangelische Volksschullehrer eine gründliche Ausbildung erhalten haben.

Die Seminaristen belebten in diesen Jahren die kleine Stadt Herdecke und brachten ein bisschen ‚Studenten-Flair‘ in den Ort. August Witteborg, am 19. November 1850 in Soest als Sohn des Webermeisters Johannes Witteborg und seiner Frau Sophie geboren, war offensichtlich musikalisch begabt und suchte in der Musik auch seinen Lebensunterhalt. Er besuchte die Präparandenanstalt in Soest, anschließend das örtliche Lehrerseminar. Am Schluss der Ausbildung stand ein Studium am Institut für Kirchenmusik in Berlin. Nach den Ausbildungsjahren begann er seine berufliche Tätigkeit als Lehrer in Hagen.

Der Grabstein der Familie Witteborg auf dem Friedhof Zeppelinstraße.
Der Grabstein der Familie Witteborg auf dem Friedhof Zeppelinstraße. © Willi Creutzenberg

Mit über 50 Jahren kam er dann 1902 an das evangelische Lehrerseminar in Herdecke. Mit seiner Frau Margarete geb. Ebeling *1856) aus Franzburg in Pommern, der Tochter Else (*1887) und den Söhnen Paul (*1894) und Erich (*1889) bezog er eine Wohnung in der Wetterstr. 21 . Neben seiner Tätigkeit als Musiklehrer komponierte August Witteborg auch Kirchenmusik. So schuf er in der Zeit in Sagan ein ‚Choralbuch zum Gesangbuch für evangelische Gemeinden Schlesiens für die Orgel oder das Harmonium oder Pianoforte‘, das in mehreren Auflagen erschien. Zu den bekanntesten von ihm komponierten Chorälen gehören die beiden Choräle „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und „Nun komm, der Heiden Heiland”. Karl Ludwig Ensuleit behauptet in seinem Buch ‚Hier ging ich an der Mutter Hand’ , dass August Witteborg auch das Lied „Mein Vater war ein Wandersmann und mir liegt’s auch im Blut“ komponiert habe, einen konkreten Beleg für diese Behauptung lässt sich allerdings nicht finden.

Auch habe Witteborg deutschlandweit große Musikfeste organisiert, die er in Herdecke vorbereitet haben soll. Das wiederum wird durch sein Engagement für die Opfer der Roburit-Katastrophe in Witten durchaus glaubwürdig. Zehn Jahre wirkte August Witteborg am Herdecker Lehrerseminar. Er starb am 27. März 1912 mit 61 Jahren.

Mit nur 20 Jahren gefallen

Der jüngere Sohn Paul, Student der Theologie, fiel als einjähriger Kriegsfreiwilliger bereits am 7. Dezember 1914 in der Schlacht bei Lakta Dolna in Galizien, gerade 20 Jahre alt. Margarete Witteborg hat ihren Mann um 33 Jahre überlebt, sie starb 1945. Tochter Else blieb unverheiratet und arbeitete als Lehrerin in Herdecke, sie starb 1969. Der älteste Sohn Erich absolvierte zwischen 1906 und 1909 das Herdecker Lehrerseminar und arbeitete später als staatlich geprüfter Musiklehrer in Ahlen/Westfalen.

Zurück zum Titel ‘Königlicher Musikdirektor’: Musikdirektor war auch schon im 19. Jahrhundert eine geläufige Berufsbezeichnung, den sich Dirigenten und Chorleiter gerne selbst zulegten. Der Titel ‘Königlicher Musikdirektor’ war allerdings eine Ehrenbezeugung, die durch eine entsprechend legitimierte Behörde vergeben wurde. Wann August Witteborg diesen Titel erhielt, ist unbekannt. Das wunderschöne Seminargebäude im Zentrum der Stadt wurde 1976 abgerissen, um Platz für eine Stadthalle zu schaffen. Diese ist niemals gebaut worden. Heute befindet sich an der Stelle, wo das Lehrerseminar bzw. die Friedrich-Harkort-Schule standen, ein Parkplatz. Die beiden Säulen an der Auffahrt zum Parkplatz und das Grab von August Witteborg auf dem Friedhof Zeppelinstraße sind die einzigen Relikte, die an die Herdecker Seminargeschichte erinnern.